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Reiner Feistels abendliche Abschiedstänze

Foto: Christian Stolz

Stürmischer und jubelnder Applaus zum Abschied für Reiner Feistel, der sich mit seinen »Abendlichen Tänzen« nach fünf Jahren als Direktor des Tanztheaters Ulm verabschiedet hat.

In Dresden ist er ja nicht unbekannt. Nach erfolgreicher, klassischer Ausbildung an der damaligen Fachhochschule für Tanz in Leipzig wurde Reiner Feistel 1984 beim Ballett der Sächsischen Staatsoper engagiert. Bald wurde er Solist, und nach gut zwanzig Jahren als Tänzer in gänzlich unterschiedlichen Facetten und Formaten, Stilen und auch freien Experimenten übernahm er 1997 die Funktion des Ballettdirektors an den Landesbühnen Sachsen. Vor allem mit seinen erzählenden Handlungsballetten hatte er Erfolg, etwa wenn er neue Sichten auf scheinbar bekannte Klassiker wie Tschaikowskys »Schwanensee« kreierte. Ballettfans und Tanzbegeisterte aus Dresden machten sich gerne auf den Weg nach Radebeul.

Nach fünfzehn Jahren wurde Reiner Feistel ab 2013 künstlerischer Leiter und Chefchoreograf beim Ballett der Theater Chemnitz. Glücksmomente wie etwa seine wunderbare Choreografie des romantischen Klassikers »Giselle« blieben trotz mancher Probleme hier nicht aus. Für seine grandiose Kreation »Gesichter der Großstadt«, inspiriert von Gemälden Edward Hoppers, erhielt er 2017 den Sächsischen Tanzpreis, der im Rahmen eines Ballettabends in der Semperoper verliehen wurde.

Von Chemnitz führt der Weg nach Ulm, wo Reiner Feistel sich nun nach sehr erfolgreicher Zeit verabschiedet. Wohin weitere Wege führen werden? Der Tanz hört ja eigentlich nie auf. Überraschungen sind willkommen. Aber zunächst das große Glück zum Abschied: die »Abendlichen Tänze«.

Foto: Sylvain Guillot

Angekommen? Gestrandet? Am Ziel? Am Ende aller Irrungen und Wirrungen der gewählten und der nicht gewählten Lebenswege?
Von Beginn an stellt der Abend des Tanztheaters Ulm vor allem Fragen. Gäbe es mögliche Antworten, dann vor allem in den Gedanken und Erinnerungen der Zusehenden, deren Horizonte  individueller Wahrnehmungen sich dadurch weit öffnen. So durchzieht eine Abfolge schönster Glücksmomente diese abendlichen Tänze. Da sind zunächst die drei Kompositionen, jeweils mit höchsten Anforderungen für Orchester und Dirigenten. Ganz zu schweigen von denen an den tänzerischen Dialog in optischer Korrespondenz zu räumlichen Assoziationen des choreografische Zusammenklanges.

Der Dirigent Felix Bender vermag es, einfühlsam, dabei mit konsequenter Aufmerksamkeit für den Tanz, die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters der Stadt Ulm in die Dialoge der Klänge und de Bewegung zu führen. So werden selbst bei betörenden Passagen außerordentlicher Klangschönheit auch Widersprüche hörbar. Zudem beschreitet diese Folge der drei Kompositionen einen Weg, dem es auch an klangexistenziellen Untiefen nicht fehlt. Was mit Sergej Rachmaninows sinfonischer Dichtung »Die Toteninsel« – inspiriert durch das Gemälde von Arnold Böcklin –  beginnt, geht bei hoher Sensibilität des Streicherklanges über in Charles Ives kurze Komposition »The Unanswered Question«.

Nach der Pause, in gänzlich anderen Dimensionen der Klänge, die vierte Sinfonie von Gustav Mahler. Im letzten Satz kommt die menschliche Stimme hinzu. Das Sopransolo der wunderbaren Solistin Maria Rosendorfsky mit einem Lied aus der Sammlung »Des Knaben Wunderhorn«. Der Gesang auf den Genuss „himmlischer Freuden“, was aber hier – der Tanz macht es möglich – ganz irdisch zu verstehen ist. Und da sind Frank Fellmanns Raumkompositionen im Licht von Marcus Denk und Grebing: Zunächst in gewisser Anlehnung an Böcklins Gemälde die bildhafte Assoziation einer Insel. Unübersehbar aber hier die Boote angekommener Menschen, deren Entscheidung aussteht: Bleiben oder Ablegen. Dann leuchtet zu den Klängen nicht zu beantwortender Fragen menschlicher Existenzen eine ferne Landschaft auf. Das Licht ist trügerisch. Zu Mahlers Musik kann sich die Landschaft verdunkeln, unergründliche Weite und Tiefe assoziieren, und doch gleich darauf wieder üppig blühende Zeichen der Hoffnung setzen. Und dennoch: bald werden sich über den Tänzerinnen und Tänzern zum Gesang jener „Himmlischen Freuden“ nur für sie einsehbare Bücher an seidenen Fäden senken. Darüber dann in dunkler Bedrohlichkeit ein alle und alles umschließendes Haus. Angekommen? Zu Hause? Oder, auch das ist möglich, noch einmal davongekommen? Der Vorhang senkt sich. Der Tanz geht weiter. So bleiben diesen abendlichen Tänzerinnen und Tänzern alle Wege offen.

Foto: Sylvain Guillot

Tänzerisch überzeugen die vier Tänzerinnen und fünf Tänzer dieses Tanztheaters von Reiner Feistel vor allem durch die hohe Sensibilität individueller Musikalität, die jeweils übergeht in die Melodik der Körper. Berührend erwachen Bewegungen aus Stille und Dunkel, werden zu Dialogen der Einzelnen, untereinander oder mit der Gruppe. So ergeben sich auch tänzerische Bewegungen individuellen Widerstandes, dann wieder im Übergang zu Szenen der Heiterkeit, des Humors, faunischer Freude, vor allem großer Lust am Spiel. Wer hat hier den Hut auf, wer trägt den Rock, wer hat die Hosen an? So können auf Momente des tänzerischen Überschwanges auch jene der stillen Poesie des Abschiedes folgen, voneinander, auch in tänzerischer Auseinandersetzung  mit sich selbst. Dann ist es wieder, als verinnerlichten sie die Ferne der Landschaft im Dialog mit den Klängen. Gerade bei Mahlers Musik, mit den Erkundungen eigener Landschaften persönlicher Existenzen. Immer aber, das ist bestimmend für diese abendlichen Tänze, geerdet, auf bloßen Füßen.

Ja, und immer wieder Humor. Etwa wenn Tänzerinnen und Tänzer einander mit Augenzwinkern die Bühne überlassen: Tanzt, was ihr wollt, was ihr könnt, wir schauen dann mal zu. Mitunter aber, in so berührenden wie verstörenden Bildern der sich aufreihenden Gruppe, Assoziationen steinerner Bilder mittelalterlicher Totentänze. Hier lösen sie sich auf in Tänze des Lebens, jener abendlichen Tänze, mit denen sich Reiner Feistel nach fünf Jahren als Direktor des Tanztheaters Ulm verabschiedet. Wie geschähe dies besser als in der Poesie des Zusammenklanges der Musik, des Tanzes und der Räume in wechselndem Licht, immer im Sinne jener letztlich nie zu beantwortenden Fragen, wer bin ich, wer bist du, bist du ich, bin ich du, wer und was sind wir? 

Fragen wie geschaffen für den Tanz. Denn der Tanz gibt letztlich keine Antworten; sonst begänne der Stillstand. Ja natürlich, auf die Tänze des Abends und des Abschieds folgen die des Morgens und des Neubeginns, auch beim Tanztheater in Ulm.