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Uraufführungen posthum

Deutsche Politiker haben es wirklich nicht leicht. Kaum faseln sie von „waffenfreien Zonen“, die möglicherweise und eventuell in diesem oder jenem Bereich präventiv einzurichten in Erwägung gezogen werden könnten, schon müssen sie sich wieder beschimpfen lassen: Hätte, hätte, Gewaltenkette … In den vergangenen Monaten wurden beispielsweise an jene grundbesorgten Menschen in Sachsen, die sich bedroht fühlen, Waffenscheine schneller ausgereicht als Führerscheine. Dabei wollen so manche von ihnen womöglich beides haben, Waffen und … Naja, viele werden sich jetzt wieder missverstanden fühlen.

Aber wir sind ja hier bei »Musik in Dresden«. Da sei die These gewagt: je mehr kulturfreie Zonen es gibt, umso mehr wächst die Gewaltbereitschaft. Und je mehr Bereitschaft dazu, umso mehr reale Gewalt. Warum soll es im Kleinen anders sein als im Großen? Sachsens Provinzminister setzt auf den verschärfen Polizeistaat, die Bundespolitik lässt Deutschlands Freiheit inzwischen wieder an Russlands Grenzen verteidigen. Dabei – nun aber endlich zur Musik! – können Deutsche und Russen so viel besser miteinander kommunizieren, eben auf dem Gebiet der Kultur, explizit der Musik. Man müsste nur auf oligarchisches Machthubern verzichten. Eine kleine Gemeinde in der Sächsischen Schweiz macht es vor, nun schon seit gut sieben Jahren: Gohrisch.

Max Uhlig hat den Schostakowitsch Tagen ein exklusives Werk gestiftet (dem unsere heutige Skizzelei nachempfunden ist): eine Reservage-Aquatinta-Radierung des Kopfes von Dmitri Schostakowitsch. In einer limitierten und vom Künstler handsignierten Auflage von 50 Exemplaren ist diese zum Preis von 250 EUR ausschließlich über die Schostakowitsch Tage zu beziehen. Der Erlös kommt dem Festival zugute.

Zweimal war der in Petersburg geborene und sein Leningrad verteidigende Komponist Dmitri Schostakowitsch hier zu Gast, 1960 und 1972. Beim ersten Besuch komponierte er zwischen dem 12. und 14. Juni 1960 sein 8. Streichquartett c-Moll op. 110, sein ganz gewiss persönlichstes Werk, in dem er sich auch gegen Krieg und jede Form von Gewalt ausspricht. Ein halbes Jahrhundert danach wurden die Internationalen Schostakowitsch-Tage Gohrisch ins Leben gerufen, die in diesem Jahr zum achten Mal stattfinden und erneut eine internationale Schostakowitsch-Gemeinde in die Sächsische Schweiz locken werden. Der aktuelle Jahrgang findet vom 23. bis zum 26. Juni statt und verspricht allen Ernstes posthume Uraufführungen von Musik Dmitri Schostakowitschs! Auf Anregung des aus Polen stammenden Komponisten und Schostakowitsch-Biografen Krszysztof Meyer ist der Dirigent Thomas Sanderling auf »Drei Fragmente, die nicht in die finale Version der Oper ‚Die Nase‘ op. 15 aufgenommen wurden« (so der Titel auf der Partitur) gestoßen worden. Dabei handelt es sich um fertig auskomponierte Zwischenspiele für die nach Nikolai Gogols Erzählung entstandene Oper, die 1930 in Moskau uraufgeführt worden ist und jeglichen Machtpopanz trefflich aufs Korn nimmt. Des Komponisten Witwe Irina Schostakowitsch hat die für Gohrisch geplante Uraufführung dieser Musik unterstützt.

Ihr 1975 verstorbener Mann wiederum hat den 1919 in Polen geborenen Musiker Mieczyslaw Weinberg sehr gefördert, nachdem der wegen seiner jüdischen Herkunft erst vor den deutschen Nazis fliehen musste und dann von den Sowjets inhaftiert worden war. Seine erste Oper »Die Passagierin« beinhaltet das Thema Flucht und Verfolgung – in einer Übernahme aus Frankfurt am Main wird sie just zu den diesjährigen Schostakowitsch-Tagen an der Semperoper Premiere haben.

Thomas Sanderling kannte sie beide, Dmitri Schostakowitsch und Mieczyslaw Weinberg. Beider Werk hat er außerordentlich engagiert zur Entfaltung gebracht. In Gohrisch wird er neben der Schostakowitsch-Premiere auch die Uraufführung der viersätzigen Fassung von Mieczyslaw Weinbergs 2. Kammersinfonie und das Werk »Die Pilger« von Sofia Gubaidulina als Deutsche Erstaufführung herausbringen.

Die soeben 85 gewordene Komponistin aus Tatarstan hat ebenfalls leidvolle Jahre in der Sowjetunion verbracht, ist in ihrem Schaffen ebenfalls von Schostakowitsch bestärkt worden und lebt seit 1992 in Deutschland. Kraft ihres Glaubens komponiert sie eine starke, eigenständige Musik, die auf Aussöhnung der Menschen sowie auf einen friedvollen Umgang mit der Natur setzt. In der aktuellen Spielzeit ist sie zum zweiten Mal Capell-Compositrice der Sächsischen Staatskapelle.

Während der Schostakowitsch-Tage 2017 werden mehrere ihrer Kompositionen erklingen, darunter das vom Raschèr Saxophone Quartet aufgeführte »In Erwartung« sowie ihre »Messa bassa« als Uraufführung in der deutschsprachigen Fassung (‚Einfaches Gebet‘). Zudem erhält sie in diesem Jahr den Internationalen Schostakowitsch-Preis Gohrisch und wird Gast eines Komponistengesprächs mit dem Künstlerischen Leiter der Internationalen Schostakowitsch-Tage, Tobias Niederschlag, sein.

Musik von Sofia Gubaidulina wird bereits im Eröffnungskonzert des Festivals erklingen, das freilich auch Dmitri Schostakowitschs Klaviersonate Nr. 1 sowie sein Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester in einer kammermusikalischen Version mit den Solisten Viktoria Postnikova und Helmut Fuchs beinhalten wird. In einem zweiteiligen Rezital präsentiert der Pianist Alexander Melnikov die 24 Präludien und Fugen von Schostakowitsch, die nach seinem Besuch des Leipziger Bachfestes 1950 in Auseinandersetzung mit Bachs »Wohltemperiertem Klavier« entstanden sind. Ein zweiter Kammerabend der Schostakowitsch-Tage steht ganz im Zeichen von Mieczyslaw Weinberg und dessen Kammermusik, wobei ebenfalls eine Uraufführung zu hören sein wird. Als weiteres Novum stellen die Veranstalter den Schostakowitsch-Tagen ein Sonderkonzert in der Semperoper voran, das von der Dirigentenlegende Gennadi Roshdestwenski – auch er ein kundiger Wegbegleiter Schostakowitschs – geleitet werden soll. Auf dem Programm dieses Konzerts stehen die 1. sowie die 15. Sinfonie und somit erstmals groß orchestrierte Sinfonik des Namensgebers.

Gohrisch wird also einmal mehr zur Kulturzone, die keine brachialen Politikerverdikte braucht. Vielleicht sollte sich die Politik – und ganz gewiss nicht nur die deutsche – mal diese Form der Verständigung antun?