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Dresden als Tor zum Westen

Mit der Sächsischen Staatskapelle bei den Internationalen Schostakowitsch Tagen in Gohrisch, 2013 (Foto: Matthias Creutziger)

Am 25. Dezember 1945 in Moskau geboren zu sein, nur gut ein halbes Jahr nach Kriegsende, das waren gewiss keine optimalen Ausgangsbedingungen für eine Künstlerlaufbahn. Die Biografie des Dirigenten Michail Jurowski verlief von Anfang an alles andere als einfach. Geboren am Weihnachtstag, stammte er von jüdischen Vorfahren ab, was ihm in der Sowjetunion damals viele Chancen verbaut hat. Zwar verkehrten im Hause Jurowski namhafte Persönlichkeiten des Kulturlebens; Aram Chatschaturian, Michail Romm, David Oistrach und viele andere gingen bei Michails Vater, dem Komponisten Wladimir Jurowski, seinerzeit ein und aus. Doch die jüdische Herkunft der Familie erwies sich in jenen Jahren wiederholt als fatal. Michail Jurowski, der als Heranwachsender vierhändig Klavier mit Dmitri Schostakowitsch gespielt hat und gern von ihm sagt, „er kannte mich früher als ich ihn“, hat diesem eigenständigen Meister viel zu verdanken und pflegt das Werk dieses Komponisten mit besonderer Hingabe.

Bei Geburtstagen saßen im Hause Jurowski oft Komponisten, Interpreten und Filmleute am Tisch, ein für den jungen Michail ganz selbstverständliches Umfeld; dennoch spürte er während des Studiums am Moskauer Konservatorium die Auswirkungen des Antisemitismus in der Sowjetunion und resümiert die Situation in Rückblicken so: „Bei jedem Start stand ich zehn Kilometer weiter hinten.“

Foto: Frank Hoehler
Foto: Frank Hoehler

Er musste sich stets mehr anstrengen und beweisen als die meisten seiner Kommilitonen, wurde aufgrund seiner künstlerischen Reife aber dennoch Assistent von Gennadi Roschdestwenski beim Großen Sinfonieorchester des Staatlichen Rundfunks und Fernsehens. Bei späteren Positionen wurde Jurowski jedoch immer wieder mit seiner Herkunft konfrontiert. Viele Chancen wurden ihm in der sowjetischen Heimat verwehrt. Auch deswegen gastierte der Dirigent ab Ende der 1970er Jahre regelmäßig an der Komischen Oper in Berlin und war von 1988 an Gastdirigent an der Dresdner Semperoper. Die deutschen Kontakte sowie zunehmende Anfragen aus anderen westlichen Ländern boten dem Dirigenten Gelegenheit, im Jahr 1990 mit seiner gesamten Familie – Ehefrau Eleonora, Mutter und Schwiegermutter sowie den drei Kindern Vladimir, Dmitri und Maria – endgültig nach Deutschland überzusiedeln. Seitdem lebt er in Berlin und dirigiert in der ganzen Welt. Der Dresdner Philharmonie sowie der Sächsischen Staatskapelle ist er bis heute verbunden; beim hiesigen Publikum ist er ein gern gesehener Gast.

In den 90ern arbeitete Michail Jurowski an allen drei Berliner Opernhäusern, obendrein mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin. 1992 wurde er Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Nordwestdeutschen Philharmonie Herford, 1997 GMD in Rostock, zwei Jahre später wurde er Chefdirigent an der Oper Leipzig. Parallel dazu war er ständiger Gast beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin sowie ab 2003 Erster Gastdirigent am Tonkünstler-Orchester Niederösterreich und von 2006 bis 2008 Chef beim WDR-Rundfunkorchesters Köln.
Das waren ungemein fruchtbare Jahre, sie blieben aber nicht ohne Folgen: Während einer Aufführung von Modest Mussorgskis „Boris Godunow“ an der Deutschen Oper Berlin ist Jurowski im Herbst 1996 zusammengebrochen, hatte sein Herz etwa vier Minuten lang ausgesetzt. Sechs Monate später stand er schon wieder am Pult, genau ein Jahr nach diesem Vorfall erarbeitete er an der Oper Leipzig „Die Nase“ von Dmitri Schostakowitsch und berichtete von seiner „Wiedergeburt“. Seitdem arbeitet Michail Jurowski nicht weniger, lebt aber disziplinierter und wohl auch bewusster. In den Jahrzehnten zuvor hat er sich – und hat man ihm – oft viel zu viel zugemutet, aufgebürdet, abverlangt.

Heute arbeitet Michail Jurowski mit namhaften Orchestern und Musiktheatern in Europa und Übersee, inzwischen auch wieder in Moskau. Eine enge Bindung gibt es zum Sinfonieorchester Norrköping, mit dem kürzlich die CD „Russische Maler“ erschien. Endlich sind nun diese sinfonischen Bilder sowie die 5. Sinfonie seines 1972 mit nur 56 Jahren verstorbenen Vaters zu hören. Erst jetzt, im 100. Geburtsjahr, bekommt dieser Komponist den gebührenden Stellenwert. Enge Verbindungen pflegt Michail Jurowski auch zu den Internationalen Schostakowitsch-Tagen Gohrisch, die er von der ersten Stunde an begleitet und auch im kommenden Juni wieder bereichern wird.

Heute Abend will er sich mal ein Gläschen Wodka gönnen, nicht in Berlin, nicht in Moskau, sondern in Mailand. Dort nämlich verbringt der Dirigent seinen 70. Geburtstag. Vor wenigen Tagen erst hat er am berühmten Teatro alla Scala Sergej Prokofjews Ballett „Cinderella“ dirigiert. Noch bis Mitte Januar wird der Maestro gemeinsam mit seiner Frau Eleonora in Italien bleiben. An ein Familienfest ist also kaum zu denken. Dabei ist Michail Jurowski ein Patriarch im besten Sinne, durch und durch Familienmensch. Er hält die Erinnerungen an seinen Vater Wladimir wach und ist in besonderer Weise stolz auf die drei Kinder, die mit großem Erfolg eigene musikalische Karrieren eingeschlagen haben, sowie auf inzwischen sieben Enkelkinder.

jurowski

 

 

P.S.: Zum 70. Geburtstag von Michail Jurowski schrieb Michael Ernst die Biografie „Dirigent und Kosmopolit“ (Henschel-Verlag), die er am 13. Januar 2016 in der Haupt- und Musikbibliothek vorstellen wird (20 Uhr). Eine gemeinsame Buchpräsentation mit Michail Jurowski gibt es am 25. Januar 2016 in der Semperoper (14 Uhr).