
Aus unerklärlichen Gründen gab es jahrelang keine wegweisenden neuen Einspielungen des Kreuzchors mehr, wie der Flämig-Kruzianer Matthias Herrmann einmal bekümmert im »Musik-in-Dresden-Interview konstatierte. Nun horchte Dresden letzte Woche auf: ein neues Kreuzchor-Album! Ein Weihnachtsalbum gar! Würde das ein neuer Klassiker werden, der in allen Spotify-Konten landauf, landab genossen werden würde?
Leider goss die „Sächsische Zeitung“ recht schnell Wasser in den Glühwein. Das Album sei eine Fälschung, eine „von grottiger Qualität“ gar, dienstleistend eingestellt von der Firma Zebralution, die sich allerdings gegenüber der Zeitung nicht zu dem Vorgang äußern mochte. Breiten wir also den Mantel der Ignoranz über diesen schlechten akustischen Scherz (hoffentlich sind keine aktuellen Kruzianer involviert!) und wenden uns stattdessen einigen echten Neuerscheinungen zu (unter anderem eine mit Beteiligung des Kreuzchors), auf dass der Gabentisch dieses Jahr wieder mit Überraschungen angefüllt sei.
(M.M.)

Die Dresdner Musikfestspiele expandieren derzeit temporär und territorial, und wer nun in aller jahresendzeitlicher Schwermut nicht im Stillen warten mag, bis Mitte Mai die »Leichtigkeit des Seins« übers Elbtal hereinbrechen wird, kann sich mit einem hörenswerten Rückblick (ja, das gibt es) die Zeit an einem klaren Tag vertun. »On a Clear Day«, dieses zweiteilige Opus des 1979 geborenen Komponisten Sean Shepherd aus den USA, wurde 2023 in der New Yorker Carnegie Hall uraufgeführt und erklang wenig später auch in der Elbphilharmonie Hamburg sowie im Dresdner Kulturpalast. Ein grenzüberschreitendes Projekt des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg, des Kreuzchors, der Hamburger Alsterspatzen unter der musikalischen Leitung von Kent Nagano und mit Musikfestspiel-Intendant Jan Vogler am Cello, das auf der Grundlage von Texten Ulla Hahns eindringlich an die Bewahrung von Natur und natürlicher Schönheit appellieren wollte, sollte, könnte. Zu dumm, dass derartige Manifestationen heutzutage kaum mehr Gehör finden, nachdem ein kruder Despot, dem trotz seiner kargen Weltsicht kaum wer zu widersprechen wagt, für die nächste Zukunft auf sehr engmaschigen Nationalismus setzt.
Umso verdienstvoller – und künstlerisch unanfechtbar – ist diese bei der Deutschen Grammophon erschienene CD, auf der in einem Live-Mitschnitt vom Mai 2023 sowohl dieses moderne Oratorium als auch das Klaviertrio »Auf dem Meer« verbunden sind. Im Kulturpalast musizierten damals die Geigerin Mira Wang und der Pianist Matthias Kirschnereit gemeinsam mit Jan Vogler. Eine Weltersteinspielung, durchaus gewagt, wie es bei Ausnahmeproduktionen wohl immer der Fall ist.
Ganz anders und in gewisser Weise dennoch vergleichbar ist die zum 150. Geburtstag von Rainer Maria Rilke erschienene CD des Loh-Orchesters Sondershausen, auf dem von Bestsellern übersättigten Markt eine ähnliche Rarität. Diese verinnerlichte Literatur hat mehrfach zu Vertonungen angeregt, wenn wir nur an Alban Berg, Arnold Schönberg, Richard Strauss sowie Erich Wolfgang Korngold denken, die sich alle mit der Lyrik Rilkes beschäftigt haben, um nur einige wenige zu nennen. Und auch der 1898 geborene Schönberg-Schüler Viktor Ullmann hat sich ihm gewidmet, hat das 1899 verfasste Langgedicht »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«, eine lyrische Erzählung, in expressive Töne gesetzt. Ein martialischer Text über die Schrecken des Krieges, berühmt geworden als Band 1 in Anton Kippenbergs legendärer Insel-Bücherei, der 1912 erschien und immer wieder nachgedruckt worden ist. Lange bevor Siegfried Matthus dies zur Oper machte und mit seiner »Weise« 1985 die wiederaufgebaute Semperoper eröffnete, haben sich Kurt Weill, Frank Martin und andere Komponisten damit beschäftigt. Viktor Ullmann hat aus dieser Dichtung ein Melodram geschaffen – im Konzentrationslager Theresienstadt! Von dort aus wurde der Komponist gemeinsam mit Weggefährten wie etwa Pavel Haas und Hans Krása von den Nazis ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verbracht und dort ermordet.

Das Loh-Orchester Sondershausen hat sich dieser Rilke-Vertonung in einer überaus gelungenen musikalischen Umsetzung gewidmet. Unter der musikalischen Leitung von Daniel Klajner und mit Uta Haase sowie Thomas Kohl in Sprechrollen gerät der »Cornet« von Rilke und Ullmann zum ebenso beklemmenden wie hörenswerten Fanal gegen Krieg und Gewalt, ist somit – leider! – höchst aktuell. Gekoppelt wird das kurze Stück auf dieser CD mit dem fulminanten Konzert für zwei Klarinetten und Orchester namens »Images of the Soul« von Benjamin Yusupov. Der 1962 in Tadschikistan geborene Yusupov, heute israelischer Staatsbürger, hat sich in seiner musikalischen Seelenbeschreibung – genau dafür steht ja die Klarinette in der jüdischen Musikwelt, hier gar gedoppelt – der Aufarbeitung dieser Schicksale seines Volkes verschrieben. Daniel und Alexander Gurfinkel sind die virtuosen Solisten an den Klarinetten, der Komponist Benjamin Yusupov dirigiert das Loh-Orchester Sangerhausen in dieser Einspielung selbst. Eindringliche Klänge dominieren in diesen vier Sätzen, die mit geradezu sprechenden Titeln versehen sind: »Echomäßiges Nachsinnen«, »Murmeln und Aufregung«, »Wirksame Stille« sowie als kraftvolles Finale »Überschäumende Rhythmen der Seele«.
Bestellbar ist die CD, die in Eigenproduktion entstand, über die Theaterkasse des Hauses (Tel.: 03631 – 6260555) .

Und wenn wir schon mal über den Tellerrand schauen, dürfen wir auch das Bauhaus Dessau in den Blick nehmen, um es akustisch auf uns wirken zu lassen. »Musik aus der Bauhausstadt Dessau« hat die Anhaltische Philharmonie unter ihrem Generalmusikdirektor und Chefdirigenten Markus L. Frank eingespielt. Ein famoses Werk des 1961 in Eisenach geborenen Komponisten Thomas Buchholz fängt Stadtgeschichte ein – »Feininger-Fraktate für großes Orchester«, die Klangsprache und Architektonik in musikalische Korrespondenz setzen – und verbindet dieses Bauwerk mit Modest Mussorgskis Opus »Bilder einer Ausstellung« in der Orchesterfassung von Maurice Ravel. Eine gewagte, aber gelungene Kopplung.

Da sind wir nun also am CD-Regal ein wenig in Richtung Abseitigkeiten gegangen, wollten just zurückkehren zu lokaleren Themen, schon überrascht uns die Replik auf ein kürzlich verfasstes Porträt des griechischen Komponisten Dimitri Terzakis. Kaum war es erschienen, flatterte unaufgefordert eine CD ins Haus, die Lieder des in Leipzig lebenden Künstlers (Jahrgang 1938) mit Gesängen Hildegard von Bingens in Bezug setzen. Anliegen der Sängerin Julia Barthe ist es gewesen, das älteste Instrument der Menschheit klingen zu lassen, die menschliche Stimme, und damit zwei grundverschiedene Künstlerpersönlichkeiten über rund acht Jahrhunderte hinweg miteinander zu verbinden. Eindrückliche Klangzeugnisse! (Ambitus 96625)
Die spanische Geigerin María Dueñas ist ein Phänomen. Von klein auf verliebt in die Musik, hat sie bereits mit zwölf (!) Jahren ihr Studium an der Dresdner Musikhochschule begonnen. Sie hat sich regelmäßig an Wettbewerben beteiligt und beinahe ebenso regelmäßig Erste Preise errungen. Als 18-Jährige gewann sie den renommierten Yehudi-Menuhin-Wettbewerb, verbunden mit dem Publikumspreis und der Leihgabe einer wertvollen Stradivari-Violine. Seit 2022 ist sie durch einen Exklusivvertrag mit dem Label Deutsche Grammophon verbunden, dort ist früher im Jahr eine Doppel-CD mit den Capricen von Nicolò Paganini erschienen. Eine Aufnahme, die ebenso mitreißend ist wie begeisternd, wie ich bereits im September beglückt schrieb. Ein brisantes Feuerwerk exzellenter Spieltechnik, wie sie María Dueñas bestens beherrscht, aber keine zur Schau gestellte Technik-Performance. Die junge Geigerin weiß ganz genau, was sie spielt – und sie erfüllt ihre Interpretationen mit Hingabe und Seele.

Dmitri Schostakowitsch, dessen 50. Todesjahr dem Leipziger Gewandhausorchester gemeinsam mit dem Boston Symphony Orchestra Anlass für ein fulminantes Festival gewesen ist, geleitet vom gemeinsamen Musikchef Andris Nelsons, hat kürzlich auch an der Mailänder Scala für Schlagzeilen gesorgt, wo sich Musikdirektor Riccardo Chailly mit der »Lady Macbeth von Mzensk« aus seinem Amt verabschiedet hat (Regie Vasily Barkhatov). Bei den diesjährigen Internationalen Schostakowitsch-Tagen Gohrisch konnten wir einmal mehr der exzellenten Pianistin Yulianna Avdeeva begegnen, die im März dieses Jahres Schostakowitschs Präludien und Fugen op. 87 auf einer unbedingt zu empfehlenden Doppel-CD eingespielt hat. (Pentatone 5187 480)
Michael Ernst

Poesie ohne Worte. Der Dresdner Gitarrist und Komponist Reentko Dirks öffnet auf seinem 14. Album namens »Rain, Stream & Speed« die Türen weit in ferne und nahe Welten aus Klanglandschaften, die Sehnsüchte wecken. Bildgewaltige Töne, exzellente Technik und geradezu seelenvoll umgesetzte Fingerartistik – all das findet sich auf diesem Album, das auch beim dritten, vierten oder zwölften Anhören noch neue Zaubertöne entdecken lässt. Reentko Dirks verbindet dabei höchst persönliche Spielweisen, die Traumwelten assoziieren, beim Zuhören abtauchen lassen in Imaginationen ebenso wie in reale Gestade, die experimentelle Moderne, Individualität und nahöstliche Klangsprache miteinander verschmelzen lassen.
Aldo Lindhorst

Zur Schlussrunde wollen wir wieder chorisch werden – denn, ja, es gibt tatsächlich eine echte (!) neue Weihnachts-CD eines Dresdner Chors, der übrigens nun schon seit 13 Jahren von Gunter Berger geleitet wird. Eine gute Stunde dauert der Flug des Philharmonischen Kinderchors Dresden mit dem Rentierschlitten über die verschiedenen Länder, wobei aus den Hütten und Palästen unter uns jeweils landestypische Klänge nach oben wehen. Man muss kein ausgesprochen guter Prophet sein, um der Neueinspielung ähnlich großen Erfolg vorauszusagen, wie er den Vorgänger-CDs beschieden war. Die Arrangements sind charakteristisch und durchaus anspruchsvoll für Chor und Begleitensemble. Besonders gut gefallen haben mir das melancholische, krippentypisch kammermusikalisch leuchtende »Natus est« (tolle Soli!) und das von Karolina Juodelyte gespielte Orgelarrangement von »God rest ye merry Gentlemen« – das man übrigens auch in den anstehenden Weihnachtsliederabenden des Kinderchors wiederhören kann.
Und ein weiteres Werk mit typisch Dresdner Zutaten runde unseren kleinen Gabentisch-Rundblick ab: der weiter oben bereits erwähnte Matthias Herrmann, 2021 emeritierter Professor für Musikgeschichte am Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber, hat für alle Peter-Schreier-Fans ein kleines Erinnerungskörbchen gefüllt. »Peter Schreier – Vollendung in reinster Form« ist das neue Buch betitelt, enthält ein liebevolles Geleitwort des Kruzianer-Zeitgenossen und Herrmanns Professorenkollegen Hans John (emeritiert 2002!) und widmet sich in Berichten von Dirigenten, Pianisten und Sängern der Karriere des Dresdner Tenors. Aus Renate Schreiers Fotokiste sind die Texte reich bebildert. Der Buchtitel ist ein Briefzitat der Sängerin Anneliese Rothenberger, die Schreier schrieb, nachdem sie 1974 Ausschnitte eines Liederabends „aus irgendeinem Schloß“ im SWF gehört hatte. Der Band ist der erste einer geplanten Buchreihe »Forschungen aus der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden«, die nach einem Verlagswechsel nun beim DONATUS Verlag erscheint.
Martin Morgenstern