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Biografie eines Ausnahmetalents

István Simon in »NARZISS« (Foto: Zoltan Rab)

War es vor 17 Jahren, 2008, im Festspielhaus in Hellerau, oder ein Jahr später? Auf jeden Fall erinnere ich mich an einen ganz jungen Tänzer vom SemperoperBallett, der im wahrsten Sinne des Wortes die Grenzen durchbrach. Es waren seine Sprünge, die geradezu in jene Momente der Schwerelosigkeit führten, von denen der Tanzwissenschaftler Gerhard Zacharias in seinem Buch „Ballett – Gestalt und Wesen“ spricht. Jener junge Tänzer war neu in der Dresdner Kompanie. Ausgebildet an der Budapester Hochschule der Künste, vertrat István Simon das Ballett in einem damals sehr beliebten Format des Festspielhauses, in dem die unterschiedlichsten Formen des Balletts und des Tanzes aufeinandertrafen. Die Dresdner Breakdancer begeisterten mit ihren Battles, eher am Boden. Ganz im Sinne ihrer Formate durchschritten die Vertreterinnen und Vertreter der Freien Szene mit bewegtem Ausdruck den Raum. Und dann eben jener junge Tänzer, der mit seiner rasanten Sprungtechnik die Grenzen durchbrach. Bald schon würde es sich erweisen, dass er es vermochte, das technische Können mit der individuellen Kraft persönlicher Charakterisierung seiner Rollen in berührenden Einklang zu versetzen.

Ballettdirektor Aaron Watkin choreografierte 2009 für das Semperoper-Ballett seine »Schwanensee«-Variante. Die spielte auf Schloss Albrechtsberg. Da war István Simon noch in der Gruppe der ‚Coryphées‘, der Anfänger, tanzte den Freund des Prinzen. Man merkte schon: er wirkte immer noch wie ein Jüngling. Aber da war jemand, der auf dem besten Wege war, Tanztechnisches Können und Persönlichkeit in Einklang zu bringen: Ausstrahlung, Temperament, Gewandtheit. Und vor allem: Sensibilität. Die rasante Technik dieses jungen Tänzers war nicht mehr losgelöst von der Persönlichkeit. Bald fiel er mir erneut auf, als Romeo in einer »Romeo-und-Julia«-Choreographie von Stijn Celis. Ob im Schauspiel oder im Ballett: Romeo ist ja ein Knabe, muss aber tänzerisch höchste Anforderungen erfüllen. Nicht zu übersehen: dieser Tänzer war weitergekommen, konnte dieser Rolle des Romeo Individualität und Persönlichkeit geben, auch die für Shakespeare so wesentlichen Momente der Tragikkomik blitzten berührend auf. Die Frage der Menschlichkeit spielte eine Rolle in seiner Interpretation. 

Und dann folgte in Dresden für István ein weiterer Sprung. Nunmehr erster Solist, vornehmlich noch immer im klassischen und neoklassischen Bereich, den Sprung in die freie Szene hatte er noch nicht getan, das hochanspruchsvolle Ballett forderte ihn. Und da war immer noch seine jugendliche, fast knabenhafte Ausstrahlung. 2008 hatte Aaron S. Watkin einen der anspruchsvollsten Klassiker des Balletts für die Dresdner Kompanie choreografiert: »La Bayadère«, mit der Musik von Ludwig Minkus. Watkin hielt sich in höchst angemessener Form an die Choreografie der St. Petersburger Uraufführung von Marius Petipa aus dem Jahre 1877. Später übernahm auch in dieser höchst anspruchsvollen Kreation István Simon die Titelrolle; er tanzte den Krieger Solor. Seine Partnerin war damals Svetlana Gileva, russische Schule, eine von den Tänzerinnen, bei denen man nicht mehr auf die Technik achtet, weil das tänzerische Können in die Persönlichkeit übergeht. Große Momente der Tanzkunst: die Grenzen der Alltäglichkeit waren durchbrochen. So wunderbare Künstlerinnen und Künstler wie die Gileva und István Simon vermitteln eben jene Glücksmomente, die nur dem Tanz eigen sind.

Längst hatte István auch international Interesse geweckt. Es folgten Einladungen, Gastspiele, seine Partnerinnen von höchstem Rang in der internationalen Ballettwelt. So zum Bespiel 2018 in der Wiener „Weltstar Gala“: István Simon tanzte mit Dorothée Gilbert einen Pas-de-deux aus einer »Manon« in der Choreographie von Kenneth MacMillan. 1974 durch das britische The Royal Ballet im Royal Opera House Covent Garden in London uraufgeführt, kam das Werk 2015 auch ins Dresdner Repertoire; die Rolle des Des Grieux übernahm István Simon von dem großartigen Tänzer Jiří Bubeníček, der sich damit auch in Dresden von der Bühne verabschiedete. Simons Partnerin in Dresden war die erste Solistin beim Ballet im Royal Opera House Covent Garden in London, Melissa Hamilton, die den Wunsch hatte, unbedingt ein Jahr lang in Dresden zu tanzen.

David Dawson, in seiner Funktion als Hauschoreograf, kreierte später am Dresdner Haus eine höchst spezielle, vergegenwärtigende Version des romantischen Ballettklassikers »Giselle«. An die Wiederaufnahme mit den Neubesetzungen von 2017 erinnere ich mich gut. Courtney Richardson in der Titelrolle, kraftvoll, zeitgemäß, auf keinen Fall ein Opfer und somit schon sehr nahe am literarischen Ursprung dieses Balletts von Heinrich Heine. Nicht zu vergessen die Ironie der Romantik, denn Albrecht, dessen Betrug Giselle in den Tod treibt, wird – eben welche Ironie – mit dem Leben “bestraft“. In jener Dresdner Wiederaufnahme gab sowohl mit tänzerischer als auch darstellerischer Intensität István Simon eben jenem Albrecht höchst lebendige Gestalt. Damals hatte Aaron S. Watkin bei einem Wettbewerb in New York den jungen, höchst begabten Tänzer Julian Amir Lacey entdeckt und nach Dresden geholt. Er tanzte die sehr spannungsgeladene Rolle des Hilarion, dem von Albrecht verdrängten Verlobten der Giselle. Aber noch besser: am nächsten Abend tauschten Simon und Lacey die Rollen. Ich war verblüfft! Welch kollegiale Kraft, welch gegenseitige Achtung.

Es ist erstaunlich und spricht für seine vielseitige Begabung, wie István nach dem Ende seiner Anstellung beim Semperoper Ballett das Repertoire seiner Fähigkeiten noch einmal enorm erweiterte. Er trainierte die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts der Städtischen Theater in Chemnitz. Das ist nach wie vor immerhin eine Kompanie, die seit ihrer Gründung im Jahre 1945, unter anderem durch einen so bedeutenden Erneuerer der Tanzkunst wie Jean Weidt, der aus dem Exil zurück gekehrt war, nie an Bedeutung verloren hat. Und er begann auch wissenschaftlich zu arbeiten, begann Studien und zeigte sich offen für neue Bereiche des Tanzes: Er erforscht die Wege des Ausdruckes außerhalb klassischer und neoklassischer Traditionen, ohne jedoch die unverzichtbaren Grundlagen tänzerischer Technik zu verlassen.

Foto: Károly Csorba

Von entschiedener Bedeutung für István Simons weitere künstlerische Entwicklung wurde die Begegnung mit dem Choreografen Andreas Heise. Ähnlich wie Simon hatte Heise nach seiner Ausbildung an der Dresdner Palucca-Schule als erster Solist am Norwegischen Nationalballett in Oslo vor allem klassisches und neoklassisches Repertoire getanzt. Dann begab er sich auf neue Wege. Man muss es wohl auch einen Glücksfall nennen, dass sich mit der Sopranistin Juliane Banse, dem Pianisten Alexander Krichel und dem Tänzer István Simon für den Choreografen Andreas Heise und seinen Ausstatter Sascha Thomsen (ebenfalls ein ausgebildeter Tänzer) ein künstlerisches Ensemble zusammenfand, dem neue Wege offen standen, jeweils ausgehend von den Fundamenten der Ausbildung und künstlerischer Erfahrungen.

Das erste Stück, das ich bewusst sah, wurde in Dresden leider nie gezeigt: für das Marvão Festival 2019 entstand Schuberts »Winterreise« mit Juliane Banse und Alexander Krichel. Banse hatte in Zürich Gesang und Tanz studiert; einer ihrer Lehrer war Uwe Scholz. Ich weiß gar nicht, wie wir eigentlich zueinander gekommen sind, aber die Künstler tourten die um die Welt und luden mich zu einer Vorstellung ein. Ich sah eine Aufführung in Stuttgart, beim Hugo-Wolf-Verein am Wilhelma-Theater. Dort sah ich, wie István Simon mit den technischen Grundlagen und seinen Erfahrungen als Bühnentänzer als eine von drei gleichberichtigten künstlerischen Stimmen das Publikum „bewegte“. Ein Weltenkosmos!

Die Proben zum nächsten Projekt, »Mozart – selig neben dir«, fanden Anfang 2022 in Dresden statt. Ich hatte das ganz große Glück, den ersten Durchlauf zu sehen. Im Probenraum, ganz dicht dran. Keiner stellte das Spezifische seiner Kunst über die der anderen. In so einem Probenstadium, als man noch abwog, geht das oder nicht, sah ich István Simon aus nächster Nähe tanzen. Ich merkte: einer nahm vom anderen etwas ab, man bedrängte sich nicht – das hatten diese Künstler gar nicht nötig. Es war eine große Ehre, dass ich damals dabei sein und diese große Kunst miterleben durfte. Und noch einmal konnte ich es nun gewissermaßen hautnah erleben, wie wichtig es doch im Tanz ist, die gediegene, technische Grundlage klassischer Traditionen zu beherrschen, von der aus dann in die zeitgenössischen Formate erst möglich werden.

Wenn nun am kommenden Montag die Dresdner Erstaufführung des Tanzmonodramas »NARZISS«, eine in Budapest uraufgeführte Kreation für István Simon in eigener Choreografie und in der Regie von Yvette Bozsik, in der Dresdner Trinitatiskirche stattfindet, dann sind da sofort auch wieder grandiose Erinnerungen da: An jenen „Weltenkosmos in szenischen Klangbildern“ anlässlich des 350-jährigen Todestages von Heinrich Schütz, der hier zu erleben war. Ich freue mich auf das Wiedersehen.

15. Dezember 2025, 19 Uhr
»NARZISS« (Tanzmonodrama)
Ort: Trinitatiskirche
Tänzer und Choreograph: István Simon
Regie: Yvette Bozsik
Musik: Estas Tonne, Jean-Philippe Heritier, John Cage u.a.

Das Stück NARZISS untersucht das fragile Gleichgewicht zwischen menschlichen Beziehungen, Liebe und Selbstliebe anhand der mythologischen Geschichte von Narziss und Echo. »NARZISS« kam im Sommer in Budapest zur Premiere und gastiert nun in Dresden in der Trinitatiskirche.