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Gebrauchsanweisung für den Konzertbesuch

Skizze: M.M. (nach einer Originalzeichnung von Loriot)

Wie der soziale Aderlass auch in der Hochkultur funktioniert? Achten Sie mal auf den Sitznachbarn – oder auf sich selbst.

Die Welt ist ungerecht, das wissen wir alle. Im Großen wie im Kleinen. Die ganze Welt ungerecht? Gibt es nicht einen kleinen Zufluchtsort, an dem es gerecht zugeht? Wenigstens ein kleines bisschen gerechter als in der großen Welt der ach so verlogenen Fakten?

Der Konzertsaal vielleicht? Au weia und autsch, was für ein Fehltritt! Im Konzertsaal gibt es ein Oben und Unten wie in der richtigen Welt. Wer unten ist, muss dafür zahlen, und oben wird mit dem zum Beruf gewordenen Hobby kräftig verdient. Ein Stimmvolk und eine schweigende (manchmal auch schwelgende) Masse. Aufeinander angewiesen. Einander ausgeliefert zwar nicht für eine Legislaturperiode, aber doch eine ganze Spielzeit lang. Zumindest für die Spiel-Zeit dieses speziellen Konzertes. Die einen wissen, was sie tun, denn sie spielen nach Noten und folgen einer Partitur. Den anderen bleibt nichts anderes übrig, als zwei, drei Stunden lang irgendwie auszuharren und so lang zu improvisieren.

Doch trösten wir uns, auch unten im dunklen Saal gibt es ein paar Regeln, nach denen man sich richten kann. Das beginnt schon bei der für den Konzertabend – für das Event also – gewählten Kleidung. Jeans schocken heutzutage niemanden mehr. Wer wirklich auffallen will, sollte es mal mit kurzem Beinkleid versuchen. Das gilt nicht nur für die Herren mit käsig weißen Kniescheiben und haarig wildbewachsenen Waden, sondern auch für die Damenwelt mit eng anliegenden und knallbunten Hotpants. Für gereiftere Frauen empfiehlt sich eine hoch aufragende Kopfbedeckung mit möglichst breiter Krempe. Sitznachbarn und das Publikum in den fünf Reihen dahinter werden die Wahl solcher Utensilien mit größtmöglicher Aufmerksamkeit danken.

Kommen wir nun zum Einlass in den Saal. Die meisten Konzerthäuser kündigen dies mit drei Klingelzeichen an. Merke: Wenn du einen Mittelplatz hast, gehe nie vor dem dritten Signal in den Saal! Sonst haben die anderen Leute womöglich keinen Grund, sich von ihren Plätzen noch und nochmal zu erheben, was schlimmstenfalls dazu führt, dass du gar nicht wahrgenommen wirst. Allerdings bleibt nun leider nicht so viel Zeit, das Ambiente ausgiebig zu fotografieren, die Bilder gründlich zu sichten und die für gut erkannten Motive den daheimgebliebenen Liebsten zu senden. Aber keine Eile, denn das erste Musikstück stammt von keinem Komponisten, sondern ist nur ein instrumentales Kauderwelsch des Orchesters. Man nennt es »Stimmen« (wer jetzt an Loriot denkt, liegt vollkommen richtig, nur zu!).

Die nach diesem Vorgang meist mehrsprachig folgende Ansage können Sie ruhig ignorieren. Wieso denn das eigene Mobiltelefon ausschalten, wenn sowieso in beinahe jedem Konzert ein freundlicher Mitmensch seinen persönlichen Klingelton in den Saal schallen lässt? Außerdem kommt es immer mal wieder vor, dass man vergisst, das Gerät nach dem Konzert wieder einzuschalten. Man bliebe geradezu unerreichbar – wer kann sich das heutzutage noch leisten?! Statt dessen lieber noch rasch eine Videoaufnahme mit nach oben gereckten Armen, das hell leuchtende Display wird auch die Leute der hinteren Reihen erleuchten. Und niemand fragt dich, ob du mitsamt deiner Begleitung fürs viral geteilte Erinnerungsfoto abgelichtet werden magst.

Besonderen Reichtum an kultureller Kenntnis strahlt aus, wer beim späten Gang durch die Reihen den Platz für Platz aufschreckenden Gästen das eigene Hinterteil zumutet. Dass es eine althergebrachte Form der Höflichkeit ist, sich den anderen Menschen zugewandt zu zeigen, gilt vielen Zeitgenossen heutzutage längst als überholt. Dafür haben die meisten inzwischen aber gelernt, dass man sich nicht im letzten Moment vorm Erlöschen der Saalbeleuchtung ein Programmheft an den Sitz heranpfeifen kann. Notfalls müssen die Nachbarschaften also noch und noch einmal aufstehen. An dieser Stelle ein kleiner Geheimtipp: Hinweise wie »links« und »rechts«, die auf jeder Karte zu finden sind, sagen nichts über die politische Gesinnung von Dirigent oder Orchester. Sollten also am besten ignoriert werden.

Solch ein Konzertabend kann bekanntlich recht lang dauern, man sollte also unbedingt an ausreichend Nahrung denken und möglichst nicht erst das Sektglas aus der Pause mit ins Parkett nehmen, sondern sich schon für die erste Halbzeit mit Flaschennahrung ausstatten.

Apropos Pause: Schlangenbildung am Tresen sollte unbedingt vermieden werden. Für alle Beteiligten (die Dürstenden vor und das Personal hinter der Bar) ist es doch viel amüsanter, wenn man sich gemeinsam nahekommt. Bilden Sie also bitte dichte Trauben und bestellen Sie möglichst lautstark und gleichzeitig. Wer dann erst beim dritten Klingelzeichen (siehe oben, diese Töne gibt’s auch zum Ende der Pause) sein sinnlos überteuertes Getränk ergattert hat, kann es selbstverständlich nicht rasch hinunterstürzen wie sauersächsischen Wein, muss es also schon aus Kosten-Nutzen-Gründen zwangsläufig mit in den Saal nehmen. Ab und an kollert dann mal ein Gläschen übers abschüssige Parkett, das ist aber kein Malheur, denn es sorgt für eine gewisse Erheiterung auch bei der tragischsten Aufführung wie etwa dem Adagietto in Mahlers Fünfter.

Wer sich beim Sekttrinken verschluckt oder die ausgegorene Fahne etwas verschleiern möchte, sollte unbedingt an Hustenbonbons denken. Nicht von ungefähr hat Kurt Tucholsky die deutschen Theater einst als Hustenhäuser bezeichnet. Aber der wusste bekanntlich auch um den Zusammenhang von Soldaten und Mördern. Heute würde er wohl schon aus Konsensgründen das Publikum bitten, zum Husten doch die leisesten Stellen abzuwarten und das Knisterpapier dann gaaanz langsam zu entfalten. Musisch gebildete Begleitpersonen freilaufender Handtaschen verfahren am besten nach dem A-B-A-Prinzip: A) Handtasche öffnen, Bonbontüte entnehmen, Handtasche schließen. B) Bonbontüte öffnen, d.h. am oberen Rand vorsichtig einreißen, ein Bonbon entnehmen und es dem Konzertgefährten / der Konzertgefährtin überreichen, ein zweites Bonbon für den Eigenbedarf entnehmen und beide dann vorsichtig entfalten, das Bonbonpapier anschließend ebenso vorsichtig wieder zusammenknüllen und in die Bonbontüte hineinstopfen, um letztere A) wieder in die Ausgangslage zurückzubefördern, indem die Handtasche geöffnet (im Idealfall mit einem millimeterweise bewegten Reißverschluss!), die Tüte zwischen klingenden Wohnungs- und Autoschlüsseln, schepperndem Schminkspiegel und blecherner Garderobenmarke zu verstauen. Ganz ehrlich, die klassische Sonatenhauptsatzform ist gegen dieses ausgeklügelte Prozedere ein reines Kinderspiel. In der Zwischenzeit ist meist schon der langsamste langsame Satz verklungen.

Wer diesen Akt musikalisch wertvoller Aktivität im kraftvollen Finale nochmal wiederholt, verschenkt allerdings einen Teil seiner mitwirkenden Möglichkeiten. Da könnte man ja gleich wie der Herr in Reihe 13 lautstark wegschnarchen, der möglicherweise ein Kritiker ist und daher sowieso schon weiß, was er morgen ins Lokalblatt schreiben wird.

Herrje, da sind wir ja fast schon am Ende, weil im Finale. Jetzt ist also Beifall angesagt, laute Bravo-Rufe bitteschön, möglichst noch in den Schlussakkord hinein, dann hat man sogar noch die Chance, falls der Rundfunk das Konzert mitschneidet, für eine einzige Sekunde, die jegliche stille Einfalt des sonstigen Publikums zerstört, zum Medienstar zu avancieren!

Wer freilich die Regie mit einem kraftvollen Buh abstrafen will, muss sich eine bessere Gelegenheit als die jüngste Opernpremiere mit Verdis »Falstaff« suchen. Denn kaum betrat Chefdirigent Daniele Gatti die Bühne, erhob sich das begeisterte Premierenpublikum. Was für eine irre Chance für das Regieteam, sich für die größtenteils missratene Produktion mit standing ovations feiern zu lassen.

Wenn der Beifall aller anderen dann allmählich anschwillt, sollte man sich schon mal so rasch wie möglich durch die Reihen zum Ausgang bewegen, um beizeiten an der Garderobe vorzusprechen. Dass die Ziffern auf der uns ausgehändigten Marke etwas mit dem Platz deines Schirms oder Mantels zu tun haben, ist ein uralter Irrglaube. Vielmehr entsprechen diese Zahlen der für dich und nur für dich zurückzulegenden Wegstrecke des Personals, bis sie fündig werden. Merke: Wer Dresden als Kulturstadt bezeichnet, hat noch nie nach einem Konzert- oder Opernbesuch an der Garderobe angestanden. Hier zeit sich des Volkes wahrer Himmel, denn ohne blaue Flecke kommst du nie aus dem Getümmel.

Die ganze Welt ist ungerecht, sogar im Musentempel.