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Harald Wenzel (1932-2023)

Ich weiß nicht, ob es Musikpädagogen wie Harald Wenzel heute noch gibt – ich hoffe es natürlich und wünschte es meinen Kindern und überhaupt allen Amateurmusikern. Aber ganz sicher bin ich nicht. Seine gütige, augenzwinkernde und zugleich strenge Art, mit seinen musikalischen Schützlingen umzugehen, ist für mich, der ich inzwischen in gut einem Dutzend verschiedener Schüler-, Studenten- und Laienorchestern als Geiger, Bratscher, Perkussionist und einmal sogar (fürs Fernsehen!) als Fagottist mitgespielt habe, einzigartig geblieben. Milko Kersten, sein Nachfolger am Pult des Jugendsinfonieorchesters auf Schloss Albrechtsberg, dem jetzigen Jugendsinfonieorchester des Heinrich-Schütz-Konservatoriums, hat es in seinem Nachruf in den DNN als „liebevolle Konsequenz“ bezeichnet. Jetzt, da er am 14. Oktober in Dresden einundneunzigjährig verstorben ist, möchte ich noch einmal kurz an Harald Wenzel erinnern.

Obwohl das aus meinem Familien- und Freundeskreis viele andere besser könnten – weil sie ihn früher und vor allem länger erlebt und unter ihm musiziert haben. Noch in den achtziger Jahren, als das „Streichorchester des Pionierpalastes Dresden“ bereits meinen musikalischen Tanten und Onkeln als einzig anzustrebendes Orchester im Elbtal galt. Sicher, mit Adelgund Renelts Streichensemble (Mädchen in rosa, Jungs in blausa Westen) konnte man sich prestigeträchtig bis in den Palast der Republik fiedeln. Aber die ernsthaften Werke bekam man erst bei Harald Wenzel aufs Pult. An meine geigerischen Grenzen brachte mich schon mein erstes Werk bei ihm, Rossinis Ouvertüre zur „Diebischen Elster“. Und das Wunder, an das keine meiner Geigenlehrerinnen noch glauben mochte, geschah: ich begann zu üben.

Die Orchesterproben bei Herrn Wenzel (ich glaube, nie hat er einem seiner ehemaligen Orchestermitglieder seinerseits das Du angeboten, so dass gestandene Jura- und Medizinprofessoren, Hochschuldozenten, Zahnärzte und andere Honoratioren ihn bei späteren Ehemaligen-Treffen des Orchesters, zu denen er mit seiner Frau aus Wehlen anreiste, einfach weiter respektvoll siezten) waren für mich prägend. Unter seinem Dirigat lernte ich die Orchestermusik und die Anfänge des klassischen Solokonzertrepertoires kennen, die ein paar Jahre später mein Lieblingsfutter als Greenhorn der Kritiker-Riege von DNN und SZ bilden sollten. Tschaikowskis „Sechste“, die wir für einen Orchesterwettbewerb in Gera bis zur Perfektion putzten, wurde für lange Zeit mein Lieblingswerk.

Harald Wenzel wurde in der Sächsischen Schweiz geboren und spielte sich in den fünfziger Jahren zum Konzertmeister des Pirnaer Sinfonieorchesters hoch. Im Abendstudium bildete er sich damals bei Rudolf Neuhaus (!) zum Dirigenten weiter, bei Reinhard Ulbricht studierte er Violine. Ende der sechziger Jahre dirigierte der Mittdreißiger das Orchester der Musikschule Pirna und wechselte nach einem erneuten Ausflug ins Profilager (vier Jahre 1. Konzertmeister mit Dirigierverpflichtung in Pirna) an die Dresdner Musikhochschule, wo er Lehraufträge für Violine und Ensembleleitung übernahm und das Hochschulorchester leitete. Trotzdem fühlte sich im Orchester auf Schloß Albrechtsberg niemand zweitklassig. Der Dirigent nahm seine Arbeit mit uns mindestens genauso ernst wie seine Hochschul-Lehraufträge. Wie vielen kratzenden Geigern, nervös quäkenden Oboistinnen, kieksenden Hornisten und leise witzereißenden Kontrabassisten mag er durch seine Art, Musik aufzuschließen und den Willen zum gemeinsamen Erleben zu wecken, den Weg in die Dresdner Philharmonie, die Staatskapelle und das Leipziger Gewandhausorchester geebnet haben? Viel, viel wichtiger ist in meinen Augen seine Rolle für diejenigen, die die Musik später neben ihrem Hauptberuf ausübten: er weckte gleichermaßen die Achtung vor dem Werk, die Lust, es technisch zu bewältigen und vor allem die Liebe zum gemeinsamen Musizieren. Bis heute gehört es zu meinen liebsten Stunden, mich mit ehemaligen Mitgliedern des Orchesters zur Kammermusik zu verabreden, und der zum fünfzigsten Orchesterjubiläum 2012 herausgegebenen Chronik ist zu entnehmen, dass es vielen, vielen anderen Orchestermitgliedern ebenso geht. Ihre heutigen jungen Nachfolgerinnen und Nachfolger (Schneeflöckchen allesamt, schnaub!) können wahrscheinlich nicht mehr nachvollziehen, was den eigentlichen Kern der Orchestergemeinschaft vor der Wende ausmachte: das Wenzel-Orchester war „eine verschworene musikalische Gemeinschaft“, eine „Nische der geistigen und musikalischen Freiheit“, schrieb Friederike Winckler in ebenjener Festschrift und schätzt, dass mehr als 80% der Mitglieder aus kirchlichen Elternhäusern kamen. Dieser subtil-widerständige Geist trug das Wenzel-Orchester noch über die Wende hinaus und ertüchtigte auch für das Leben außerhalb der Nische.

Die älteren Jahrgänge des Wenzel-Orchesters verbinden mit ihrem damaligen Dirigenten sämtlich eine einfältige kleine Handgelenksarbeit Kurt Schwaens, das „Bulgarisch“. Mehr als fünfundzwanzig Jahre, nachdem Milko Kersten das Jugendsinfonieorchester von Harald Wenzel übernommen hat, ist es Zeit, sich von diesem Stück freundlich zu verabschieden. Ich werde stattdessen heute Abend nach langer Zeit wieder einmal Tschaikowskis „Sechste“ hören – und dabei dankbar an Harald Wenzel zurückdenken.