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Ravel in den Adern

Die Reise hat sich gelohnt. Dieser Abend mit der bekannten, aber immer wieder wie neu zu erlebenden Choreografie »Walking Mad« zu Maurice Ravels »Boléro«, von Johan Inger, die vor neun Jahren ihre bejubelte Premiere in Dresden feiern konnte, besticht am Ende mit zwei darauffolgenden Uraufführungen durch die Kraft absurder Emotionen.

Wand, Hintertürchen, Ausgang, Fluchtmöglichkeit… Alle Fotos: Ctibor Bachraty

Auch jetzt wieder, zur Erstaufführung in Brno, 21 Jahre nach der Uraufführung in Den Haag beim Nederlands Dans Theater, erlebt man ein Tanzstück von ungebrochener Kraft, eben zu Maurice Ravels berühmtem  »Boléro«, aber mit dem verblüffenden Finale, wenn nach dem wie ein Vulkan aus- und aufbrechenden Crescendo ein besinnlicher Ausklang zarter Klavierklänge folgt: »Für Alina« von Arvo Pärt. Da wirkt nichts wie von gestern, vor allem wenn so hin- und mitreißend getanzt wird wie von den drei Tänzerinnen und sechs Tänzern des Balletts in Brno, die uns mitnehmen auf eine ziemlich verrückte Reise. Und die hat doch etwas mit dem verrückten Musikstück zu tun. Man kann einfach nicht aufhören zuzuhören, wenn man einmal angefangen hat, und es fängt ja so leise, kaum hörbar, an. So auch diese verrückte Reise, »Walking Mad«. Ein Mann, Clown oder Magier als tragikomischer Beziehungsreisender, steigt er hoch und lüftet den Vorhang. Wenn der oben ist, ist er auch auf der Bühne. Da steht eine Frau und dahinter eine Wand. Auch wenn davon nichts in der Bibel steht: als Mann und Frau geschaffen wurden, gab es auch die Wand, die immer da ist, mal vor dem einen dann vor der anderen dann wieder zwischen beiden. Zudem hat sie immer noch hier und da so etwas wie ein Hintertürchen, einen geheimen Ausgang, eine Fluchtmöglichkeit.

Inger treibt den Tanz gegen die Wand, dahinter sind allerlei komische Gestalten, die bewegen das komische Ding und lassen die Bretter auch noch ganz schön tanzen. Mal kommen komische Gartenzwerge mit roten Mützen aus der Wand, die müssen vor den starken Frauen kuschen. Dann knallen sie das Hindernis einfach um und machen daraus eine Bretterbühne, auf der sie ihren Boléro mit Schuss nur so hinbrettern, bis die Bretter krachen. Dann auf einmal ist die Musik weg. Fast weg. Irgendwo, wie ein fernes Echo, immer noch »Boléro«, nicht tot zu kriegen dieser Sound! Dann wird aus der Wand ein Winkel, dann werfen die Menschen zwei Schatten, dabei denkt man dass doch einer reicht, das ist dann nicht mehr so komisch.
Und wieder Ravel mit voller Kraft, ins Finale, da hat es dann aber doch den Anschein, dass man gegen diese Flutwelle aus Klangrausch lieber nicht antanzen sollte. Gibt dann ja auch noch einen sanften Nachschlag. »Für Alina«, von Arvo Pärt. Na, wollen wir’s noch mal versuchen, ein Duett zum sanften Solo für Piano. Noch zu viel »Boléro« im Mann. Er springt über die Wand. Sie steht da, seinen Mantel in der Hand. Braucht er nicht mehr. Dem wird nicht kalt, zu viel Ravel in den Adern.

Es folgen – an Mut fehlt es beim Ballett in Brno offensichtlich nicht – zwei Uraufführungen. Zunächst ruft der Berg, »Mountain Call« von Dan Datcu, aus Constanța in Rumänien, ausgebildet in Bukarest, wandte er sich schon als Tänzer, mit Stationen u.a. in Wien, Pressburg, Ljubljana und auch als Solist in Brno, der Choreografie zu. Jetzt stellt er seine dritte Kreation für das Ballett in Brno vor.
In gewisser Weise nimmt auch er uns mit auf eine Reise, auf eine Reise der Klänge, grundiert von der besonderen Melancholie des rumänischen Balanescu – Streichquartetts, hier auch ergänzt mit vokalen Klängen. Vier Tänzerinnen, sechs Tänzer vernehmen jeweils auf ihre Art jene Rufe der Berge, lassen Erinnerungen erwachen und widmen sich in drei Teilen, welche am Ende aber ein Ganzes ergeben, existenziellen Erfahrungen. Mitunter, wie gleich zu Beginn, wenn ein junger Mann einsam erwacht nimmt er so etwas wie eine traumhafte Vision wahr anhand des Bildes einer gewaltigen Bergquelle, was zu stark rhythmisierten Bewegungsfolgen führt.

»Mountain Call«

So sind auch immer wieder, vor allem durch musikalische Passagen von folkloristischer Kraft, Bilder zärtlicher Rituale wahrzunehmen. Es mag dann auch um Versuche der Zweisamkeit gehen, um die individuelle Behauptung in der Gruppe, um den Wechsel der Zuordnungen mit unterschiedlichen Formen von Duos, aber auch um andere Formen des Zueinanderfindens, wie in einer Szene für eine Tänzerin und drei Tänzer. So spielen auch die stummen Rufe der Körper untereinander ihre Rollen, bis am Ende in beeindruckenden, ringenden Bewegungen diese so hochsensible Abfolge bewegender Bilder des Tanzes und der Klänge beendet.

Teil drei, eine weitere Uraufführung mit dem schon allein an Assoziationen reichem Titel, »Unanswered Question« ist Chefsache: Mário Radačovský als Ballettdirektor stellt seine neueste Kreation vor und ganz sicher auch zur Diskussion. Er ist seit 2013 künstlerischer Direktor in Brno. Nach seiner Ausbildung in Bratislava wurde er hier Solist beim Slowakischen Nationalballett, Er tanzte sieben Jahre lang im Nederlands Dans Theater unter der Leitung von Jiří Kylián, wurde darauf erster Solist beim Les Grands Ballets in Montréal, wo er auch mit ersten Choreografien auf sich aufmerksam machte. Die Liste seiner Kreationen wäre zu lang, wesentlich erscheint, dass es ihm darum geht, den Tanz in allen seinen unterschiedlichen Facetten als wohl die stärkste Ausdruckskraft der darstellenden Künste, immer wieder zu erforschen. 

»Unanswered Question«

Und da passt doch der aktuelle Titel bestens, geht es doch nicht darum, in der Kunst Fragen zu beantworten, sondern sie zu stellen und sich dabei mitunter auch immer wieder in die Bereiche des Absurden zu wagen.
Und so absurd wie diese Kreation »Unanswered Question« beginnt, so wird sie auch enden. Ein junger Mann allein auf dem Bett. Eine junge Frau, offensichtlich kommt sie von einem Ball, gesellt sich dazu. Von Nähe kann aber nicht die Rede sein. Vorhang zu und wieder auf. Neben dem Bett der Kühlschrank, auf und zu, immer leer, Frust in der Einsamkeit. Sie geht und schenkt ihm eine Orange.
Darauf folgen Szenen, die mitunter mehr oder weniger rätselhaft sind, den Wahrnehmungen sind keine Grenzen gesetzt: Sind da plötzlich zwei Männer im Bett, wie paradiesisch ist das denn? Gerade wurde doch noch versucht die Kraft der Gruppe zu zelebrieren, folkloristisch aufgepoppt. Und wer ist diese so wunderbar singende Gestalt, ein Mann, eine Frau, beides? Aber die Frau vom Beginn, die es nicht vermochte, den Einsdamen zu trösten, wird sich an diese Valentine – oder doch Valentin – lehnen.
Und dann geht die Show ab, keine Frage mehr, wer ist wer, wer gehört zu wem, traditionelle Rollenspiele gibt es hier nicht, eine getanzte Vision, du kannst sein wie du bist, mitunter wohl auch, wie du willst. Ganz wunderbar, wie sich die zehnTänzerinnen und Tänzer in dieses so herrlich verwirrende Fragespiel ohne Antwort hineinbegeben.
Und dann, am Ende welch Wunder, der Kühlschrank ist randvoll von reifen Orangen. Der Einsame vom Beginn gibt sich hin im Orangenglück, der Saft fließt und spritzt nur so, und der Duft dieser kleinen Orgie des Glücks der Einsamkeit breitet sich angenehm aus über die ersten Reihen im Parkett des großen und auch bestens besuchten Janáček-Theaters in Brno.

Ja, ja, im Theater geht das alles so. Bleibt zu hoffen, dass dieser Duft der Freiheit dann auch weiter wehen wird, wenn die höchst begeisterten Zuschauerinnen und Zuschauer diesen geschützten Raum der Visionen wieder verlassen.