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Schostakowitsch in Hellerau

Der Geist des Ortes – gegen eine Pandemie ist er machtlos. Bislang stand die Entstehungsgeschichte des 8. Streichquartetts von Dmitri Schostakowitsch als Garant für ein weltweit einzigartiges Musikfest. Binnen dreier Tage komponierte der Meister sein wohl persönlichstes Kammermusikwerk, das einzige fern der russischen Heimat entstandene Opus, 1960 im sächsischen Gohrisch. Exakt ein halbes Jahrhundert danach etablierten Enthusiasten an diesem authentischen Ort ein Festival, das sie vollmundig »Internationale Schostakowitsch-Tage Gohrisch« überschrieben.

Dieser Anspruch wurde umgehend mit künstlerischem Inhalt gedeckt und Jahr für Jahr überboten. Bis 2020: voriges Jahr gab‘s keine Chance, die Erfolgsgeschichte lückenlos fortzuschreiben. Und selbst 2021 musste gebangt werden, was – und ob überhaupt irgendetwas – in anhaltenden Pandemiezeiten möglich sein würde. Die Macher haben lange darum gerungen, am Gründungsort mit seinen historischen Wurzeln festhalten zu können. Allein, die Inzidenzwerte der Sächsischen Schweiz (und die geschlossenen Hotels) gaben eine verlässliche Planung einstweilen nicht her, und irgendwann musste schließlich so kosten- wie risikobewusst entschieden werden. Wären Aufträge zum Umbau der wunderbaren Spielstätte auf dem grünen Hügel von Gohrisch ausgelöst worden – um die Scheune der Agrargenossenschaft wieder zum Konzertsaal umzugestalten -, dann hätte das Folgeausgaben verursacht, deren Umfang kaum absehbar schienen.

Festspielhaus Hellerau (c) Samira Hiam Kabbara

Also wurde auf Nummer sicher gesetzt. Die Schostakowitsch-Tage sind dieses Jahr nach Dresden geholt worden. Genauer: Ins Festspielhaus Hellerau. Wer da meint, das habe ja mit der Entstehungsgeschichte des Festivals nichts mehr zu tun, irrt. Schließlich ist Dmitri Schostakowitsch 1960 eigens nach Dresden gereist, um dort die Filmmusik zu »Fünf Tage, fünf Nächte« zu schreiben. Was ihm angesichts der zerstörten Stadt aber nicht möglich war, denn die Bilder dürften ihn schmerzhaft an das von den Nazis geradezu hingerichtete Leningrad erinnert haben.

Also schrieb er keine Propagandamusik, sondern ein nahezu privatimes Stück Kammermusik. Seit 2010 erklingt das 8. Streichquartett c-Moll op. 110 regelmäßig am Ort seiner Entstehung. Mal original als Quartett, mal in der von Rudolf Barschai arrangierten Fassung für Streichorchester.

In diesem Jahr nun könnte es im Festspielhaus Hellerau aufgeführt werden, einem originären Ort der Künste, der beizeiten von den Nazis missbraucht und kriegsbedingt nach 1945 bis über den sogenannten Wendeherbst von 1989 hinaus von der sowjetischen Armee benutzt worden ist. Doch die Veranstalter setzen lieber auf im Rahmen des Festivals noch nicht erklungene Werke. Vielleicht fügt sich Schostakowitschs Klangwelt ja gerade in diese Räume sehr passend ein? Warten wir’s ab.

Gidon Kremer. Foto: Angie Kremer

Spannend ist das Programm der nun schon 12. Internationalen Schostakowitsch-Tage allemal, wie Tobias Niederschlag, Künstlerischer Leiter des Festivals, vorab verriet. Einmal mehr werden zahlreiche Ur- und Erstaufführungen zu erwarten sein, was nicht zuletzt der inzwischen schon traditionellen Verbindung zum Moskauer Schostakowitsch-Archiv und namentlich zu Olga Digonskaja, der Leitenden Archivarin dieses Instituts, zu verdanken ist. Die russische Musikexpertin hat in den vergangenen Jahren mehr als 300 bislang unbekannte Schostakowitsch-Manuskripte entdeckt und eine ganze Reihe davon zur Uraufführung nach Gohrisch gegeben. Grund genug, Olga Digonskaja in diesem Jahr mit dem Internationalen Schostakowitsch-Preis Gohrisch zu ehren.

In einem Wandelkonzert werden im Umfeld des Festspielhauses Hellerau der Geiger Dmitry Sitkovetsky sowie seine Tochter Julia Sitkovetsky, Sopran, und der Cellist Friedrich Thiele eine Auswahl an Liedern und Romanzen verschiedenster Komponisten präsentieren, die Schostakowitsch 1941 für „ermunternde“ Konzerte an der Leningrader Kriegsfront bearbeitet hat. Dass diese Arrangements zur deutschen Erstaufführung nun just in Hellerau erklingen werden, ist durchaus von einer dramaturgisch sinnhaften Evidenz. Gekoppelt wird dieses Programm mit der Uraufführung mehrerer Klavier-Präludien von Schostakowitschs Opus 34, die Sitkovetsky eigens zu diesem Wandelkonzert für Violine und Violoncello arrangiert hat. Auch die Serenade von Gaetano Braga, die Schostakowitsch für sein unvollendet gebliebenes Opernprojekt »Der schwarze Mönch« bearbeitet hat, wird erstmals in Deutschland erklingen. Darüber hinaus soll die deutsche Erstaufführung des Dokumentarstreifens »A Journey of Dmitry Shostakovich« von Oksana Dvornichenko und Helga Landauer zu erleben sein, der Schostakowitschs letzte große Reise im Jahr 1973 von Moskau nach New York zum Inhalt hat.

Zudem stellt ein als Matinee stattfindender Aufführungsabend der kapelle21 unter Leitung von Petr Popelka erstmals zu den Schostakowitsch-Tagen das Streichquartett Nr. 10 in der kammersinfonischen Bearbeitung von Rudolf Barschai vor, verbunden mit der Uraufführung einer frühen Bearbeitung des Adagio cantabile aus Beethovens Klaviersonate »Pathétique« durch Schostakowitsch für Streichorchester. Außerdem steht – in Erinnerung an den 10. Todestag von Kurt Sanderling, dem ersten Schirmherren der Schostakowitsch-Tage – die 2. Sinfonie von Mieczysław Weinberg auf dem Programm. Musik dieses Schostakowitsch-Vertrauten soll auch im Abschlusskonzert zu hören sein, dann verbunden mit Werken von Arvo Pärt und natürlich dem Namensgeber des Festivals.

Die Schostakowitsch-Tage in Hellerau sind also keineswegs eine Verlegenheitslösung, sondern vielmehr ein ebenbürtiges Festival mit hörenswerten Inhalten und namhaften Interpreten. Schließlich geben sich erneut das Borodin Quartet sowie das Quatuor Danel die Ehre, kehrt der Geiger Gidon Kremer bereits zum dritten Mal zu den Schostakowitsch-Tagen zurück und werden die Konzertmeisterin der Kremerata Baltica, Madara Pētersone, ebenso zu hören sein wie die Pianistin Yulianna Avdeeva sowie ihre Tastenkollegen Dmitry Masleev und Georgijs Osokins.

Neben Musik und Film ist auch eine Buchpräsentation angekündigt, in der die Autorin Danuta Gwizdalanka ihre Ende vergangenen Jahres erschienene Biographie über den Komponisten und Schostakowitsch-Freund Mieczysław Weinberg vorstellen wird.

Trotz der berechtigten Fortsetzung eines in Gohrisch schon bewährten Konzepts gibt es in Hellerau jede Menge Novitäten in Form von bislang zu den Schostakowitsch-Tagen noch nicht erklungenen Kompositionen. Aufgrund der aktuellen Situation werden alle Konzerte nur 60 bis 90 Minuten dauern und ohne Pause stattfinden, auf die bewährten Konzerteinführungen muss zwangsläufig verzichtet werden. Stattfinden kann allerdings das Sonderkonzert am Vorabend der Internationalen Schostakowitsch-Tage, das am 23. Juni mit der Sächsischen Staatskapelle unter Leitung von Vladimir Jurowski im Dresdner Kulturpalast mit dem Solisten Leonidas Kavakos terminiert ist.

Sämtliche Informationen  unter www.schostakowitsch-tage.de. Der Vorverkauf startet am 10. Juni 2021.