Scroll Top

Eine mutige Künstlerin

Jahns 1996 in »Winterreise« (Foto: E. Döring)

In der Nacht zu gestern ist die Sängerin, Regisseurin und Lehrerin Annette Jahns nach schwerer Krankheit im Alter von 62 Jahren verstorben. Die warme und sinnliche, dabei aber immer auch charaktervolle, stets die Grenzen gesanglichen Möglichkeiten ausreizende Tiefe des Klangs war ihre Spezialität als Altistin. 

In der Zusammenarbeit etwa mit Ruth Berghaus, Pina Bausch oder Robert Wilson hatte sie verinnerlicht, dass im Musiktheater die reine Information eines Textes und seine musikalische Präsentation nicht unbedingt szenisch zusammengehen müssen, dass beim Zusammentreffen so unterschiedlicher Signale wie Sprache und Musik neue Zeichen und Bilder entstehen. In ihrer Arbeit als Regisseurin hat Annette Jahns sich dann immer stärker den Ambivalenzen der gewählten Stücke und Vorlagen ausgesetzt. So konnte sie zu Bildern und Abläufen finden, die entweder aus dem Misstrauen der Information des Textes gegenüber oder in Weiterführung derselben begründet sind. In ihren Operninszenierungen etwa gelang es, andere Wahrnehmungen von Stoffen zu ermöglichen, die das Publikum bestens zu kennen meinte. Irritationen gehörten dazu. Verunsicherung auch. Aber pure Provokation um der Provokation willen war ihre Sache nicht. 

In ihren eher performativen Arbeiten, etwa der szenischen Gestaltung romantischer Lieder, wie Franz Schuberts »Die Winterreise«, setzte sich die Künstlerin in ihrer Interpretation, vor der gängige Kriterien einer Konzerteinschätzung versagen, auch körperlich der Zerrissenheit des winterreisenden Franz Schubert aus. In der Kraft dieses künstlerischen und persönlichen Dialoges zwischen der Musik und der körperlichen Darstellung im Spielgel der Optik einer szenischen Performation stand Annette Jahns als Sängerin und Tänzerin letztmalig am 6. Oktober des letzten Jahres auf der Bühne des Berliner Radialsystems. Hier kam im Rahmen der Bauhausfeierlichkeiten, im Gedenken an Oscar Schlemmer, »Das Geometrische Ballett« von Ursula Sax zur Uraufführung. Schon am nächsten Abend musste Annette Jahns ihren Part von der Seitenbühne, aus der Gasse, singen. Und einige Tage später, zur Dresdner Erstaufführung im Festspielhaus Hellerau, wurde ihr Gesangpart zugespielt. Diese Einspielung bleibt nun als letztes Tondokument. Somit werden ihr Gesang, ihr Spiel, ihr Umgang mit den Künsten und die Neugier auf das unbekannte Neue nicht verklingen.

Annette Jahns wuchs in einer Dresdner musikalischen Familie auf. Die Mutter, Ilse Ludwig, der Vater, Wilfried Jahns, gehörten zum Solistenensemble der Sächsischen Staatsoper. Und die Tochter, nach ihrer Gesangsausbildung an der Dresdner Hochschule für Musik durch Meisterkurse bei Judith Beckmann, Ute Niss und Theo Adam gewappnet, wurde Mitglied des Dresdner Opernstudios, gehörte ab 1986 zum Ensemble der Staatsoper. 

Ein Jahr zuvor, zur Eröffnung der wieder aufgebauten Semperoper, beeindruckte sie als Gedankenstimme in der Uraufführung der Oper »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« von Siegfried Matthus. Als Ensemblemitglied sang sie viele Partien ihres Stimmfaches, die wichtigsten vielleicht waren Mozarts Ramiro (»Die Gärtnerin aus Liebe«) Cherubino (»Die Hochzeit des Figaro«) Dorabella (»Cosi fan tutte«). Sie war die Maddalena in Verdis »Rigoletto«, die Quickly im »Falstaff«, die Muse und die Stimme der Mutter in Offenbachs »Hoffmanns Erzählungen« oder auch die Anna I in »Die sieben Todsünden« von Brecht und Weill. Mit Arila Siegert gestaltete sie spezielle Abende im Kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels. Sie wurde von Dirigenten wie Giuseppe Sinopoli gefördert und schätzte die Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Joachim Herz, Peter Konwitschny oder Ruth Berghaus, in deren legendärer Dresdner Inszenierung der »Elektra« sie mitwirkte.

»Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«. Mit Olaf Bär, 1985 (Foto: E. Döring)

Schon hier wurde deutlich, was sich später aufgrund ihrer speziellen Begabungen endgültig durchsetzte. Es wäre zu einseitig, diese Sängerdarstellerin lediglich im klassischen Repertoire ihres Stimmfaches zu erkennen. So machte sie schon 1987 im Berliner Theater im Palast mit der Titelpartie der »Bettina« in der Uraufführung der gleichnamigen Oper von Friedrich Schenker und Karl Mickel auf sich aufmerksam und wurde für diese Leistung mit dem Kritikerpreis ausgezeichnet. Wiederum in einer Uraufführung, als Sarah Chatterton in Matthias Pintschers Oper »Thomas Chatterton«, 1998 an der Semperoper, kann sie überregionale Anerkennung erringen.   

Ab 1989 arbeitete Annette Jahns freischaffend. Inzwischen singt sie auch als Rheintochter, als eine der Walküren Partien von Richard Wagner und wird nach Bayreuth zu den Festspielen eingeladen. Sie debütiert 2002 bei den Salzburger Festspielen, ein Jahr später an der Scala di Milano. Am Pariser Theatre de Chatelet debütierte sie 2005 in Wagners »Der Ring des Nibelungen« in der Inszenierung von Bob Wilson mit Christoph Eschenbach am Pult. Weitere Gastspiele führen sie an das Teatro la Fenice in Venedig im Rahmen einer konzertanten Ring-Aufführung. Und was für ein Zufall: schon 1983 hatte hier beim Gastspiel der Sächsischen Staatsoper ihre Mutter, die Altistin Ilse Ludwig, die Annina im »Rosenkavalier« gesungen.  

Auch an der Oper in Palermo, Italiens größtem Opernhaus, wird sie als Rheintochter und als eine der Walküren mehrfach zu erleben sein. Sie gastiert mit Konzerten und Liederabenden auf vielen europäischen Podien. Seit es ihr möglich ist, zu reisen, arbeitet sie mit Pina Bausch zusammen, zunächst als Anna I, sie sang und spielte dann, auch auf internationalen Gastspielen in Pina Bauschs Choreografie »Orpheus und Eurydike« die männliche Titelpartie. Die Westdeutsche Zeitung sprach von einer Idealbesetzung mit dieser Sängerin aus Dresden. 

Das war im Jahre 1993. Als 1987 Pina Bausch mit ihrem Tanztheater in Dresden gastierte, verhandelte Annette Jahns mit der sowjetischen Militärdirektion und machte es so möglich, dass Pina Bausch das damals als Sporthalle für die Soldaten genutzte Festspielhaus besichtigen konnte.

Probe zu »Butterfly« (Foto: E. Döring)

Und schon bevor sich Annette Jahns 1999 aus dem Ensemble der Sächsischen Staatsoper verabschiedete, hatte sie sich immer stärker als Opernregisseurin einen Namen gemacht, erforschte für sich zudem noch ein spezielles Feld des genreübergreifenden Musiktheaters auf der kleinen szene der Sächsischen Staatsoper. Da sind ihre Soloabende »Seltsame Kinder« oder »Orlando«, vor allem aber ihre schon erwähnte szenische und gesangliche Deutung von Franz Schuberts Liederzyklus »Die Winterreise«. Diese Abend bleibt mir unvergesslich. Hier brachte sie Gesang und Bewegungsspiel in bedrückenden Einklang. Den gefängnisartigen, abstrakten Raum des eigenen Bühnenbildes vermochte sie kraft der Assoziationsbreite ihres künstlerischen Ausdruckes zu durchbrechen. Später wird sie weitere Grenzen überschreiten. Sie entdeckt für sich die Kunst der Performance, etwa beim Festival Junge Kunst in Volkenroda oder bei den Romantischen Herbststürmen auf Schloss Scharfenberg. Sie musizierte mit internationalen Größen der Jazz- und Kunstszene, etwa mit A.R. Penck am Klavier, Jan Heinke an seinen speziellen Instrumenten, Helge Leiberg, Conrad Bauer oder Hannes Zerbe.

Dann geht sie konsequent ihren Weg als Regisseurin. An der Semperoper gelingt ihr mit Puccinis »Madama Butterfly« ein emotionaler Abend, dessen Berührung durch die Wahrnehmung der Härte dieses Schicksals einer Frau überzeugen konnte. Mit Rossinis »La Cenerentola« ist sie am Münchner Prinzregententheater erfolgreich in einer Inszenierung der Bayerischen Theaterakademie August Everding. In diesem Zusammenhang muss auch die gefragte Lehrtätigkeit von Annette Jahns erwähnt werden, in mehrfachen Bereichen an der Dresdner Hochschule für Musik, auch wenn sie den musikalischen Nachwuchs szenisch unterrichtete. Da konnte sie auf gute Praxiserfahrungen bauen. Denn bald schon zeigte sich bei ihren Inszenierungen ganz unterschiedlicher Opern des weiten Repertoires, etwa an der Landesbühnen Sachsen, am Mittelsächsischen Theater in Freiberg und Döbeln, wie es ihr immer wieder gelingt, Rollenporträts im Einklang mit den Persönlichkeiten der Sängerinnen und Sänger zu entwickeln. 

Dies mögen Beispiele sein. Die Liste der Inszenierungen, der Konzerte, der Festivals, der Lehrveranstaltungen, der in letzter Zeit immer beliebteren performativen Formate ist lang. Wer dabei war, wer die Facetten dieser mutigen Künstlerin erlebt hat, wird sie nicht vergessen, vor allem, weil sie so wunderbar Horizonte der Wahrnehmung öffneten, dort, wo man glaubte, längst zu wissen, was zu erwarten sei.  

Ihre letzte große Opernpartie an der Semperoper war 1994 die Titelrolle in Janceks »Das schlaue Füchslein«, so wie es der Komponist wünschte, mit einem Mezzosopran besetzt. Sie war, so ein Kritiker im Fachmagazin »Opernwelt«, „ein fescher, famos singender Fuchs“. Schon ein Jahr zuvor sprach Annette Jahns in einem Interview dieses Magazins davon, dass sie immer wieder „neue Reibungsflächen“ suche. 

Porträt, 2002 (Foto: E. Döring)

So vielfältig wie die Facetten der Sängerdarstellerin Annette Jahns, so auch die der Regisseurin mit ihrem ungebrochen, mutigen Einsatz für neue Werke und dementsprechenden, neuen Formen im Zusammenspiel der Künste. Vor fast genau zehn Jahren im Dezember in Hellerau – dem Europäischen Zentrum der Künste in einer Großproduktion mit dem MDR etwa: Eine denkwürdige Uraufführung unter ihrer Regie: »Der Tod und das Mädchen«, die Oper von Alfons Zwicker nach dem Roman von Ariel Dorfman.

Und so wird sich hier, in Hellerau, ein Kreis schließen, wenn nämlich im Dezember dieses Jahres ihre Stimme in der Aufnahme ihres letzten Tondokumentes zu hören sein wird, in den Aufführungen »Das Geometrische Ballett« am 18., 19. und 20. Dezember. Dann mit traurigem Nachklang, dankbaren Erinnerungen und sicher auch mit Visionen für die Zukunft musikalischer Gestaltungsformen des grenzüberschreitenden Musiktheaters.