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Nach 300 Jahren: Antonio Lottis »Giove in Argo« im Palais im Großen Garten

Dosso Dossi – »Diana und Callisto« (Rom, Galleria Borghese). Quelle: Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4172503

Zuerst gab es nur eine schmale Partitur: die in der Edition der »Denkmäler der Tonkunst in Dresden« 2011 veröffentlichte »Sinfonia« zu »Giove in Argo« von Antonio Lotti. Sie war schon 2004 von Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle Dresden für eine CD »Das neueröffnete musikalische Schatzkästlein« anlässlich der Eröffnung des Neuen Grünen Gewölbes eingespielt worden.

2018 beriet sich Eleni Ioannidou, eine Griechin mit polnischen Wurzeln, Sängerin, Musikmanagerin und Leiterin des Vereins Ars Augusta in Görlitz/Zgorzelec, mit mir über die Möglichkeit, »Giove in Argo« aufzuführen. Sie gründete mit dem Autor, Musiker und Tontechniker Heinz Müller 2017 einen Verein, der im Haus Nr. 6 in der Augustenstraße in Görlitz seine Sitz hat. Die in Breslau geborene Musikerin hat einen Teil ihrer Kindheit in Zgorzelec verbracht. Die Rückkehr in ihre Heimat vor drei Jahren offenbarte ihr das enorme Potenzial der polnisch-deutschen Stadt an der Neisse, zu einem kulturellen Botschafter der europäischen Idee zu werden.  Zugleich erkannte sie auch den enormen Reichtum des Kulturerbes in der Region. Das Wiederbeleben von historisch bedeutsamen Baudenkmälern, die Wiederentdeckung der Werke von Komponisten, Schriftstellern und herausragenden Persönlichkeiten hat sich Eleni Ioannidou zur Aufgabe gemacht.

Dazu gehörte auch die Entdeckung einer 300 Jahre alten Partitur wie Lottis »Giove in Argo«. Zur Eröffnung der Veranstaltungsreihe im Palais im Großen Garten im Frühjahr diesen Jahres sang sie eine Aria aus diesem Werk. Sie machte einen guten Eindruck, aber eine Unterstützung für dieses Projekt gab es erst nach langen, vergeblichen Versuchen von der Kulturstiftung des Freistaates.

Der Verein Ars Augusta plante eine Aufführung im Herbst 2019 in Dresden, da dieses Melodrama pastorale vor 300 Jahren die Opernaufführungen anlässlich des Planetenfestes zur Hochzeit des Kurprinzen Friedrich August und der Habsburger Erzherzogin Maria Josepha eröffnete. Lotti war im Herbst 1717 mit seiner Frau, der Primadonna Santa Stelle, dem Kastraten Senesino, weiteren Sängern sowie dem Violinisten Francesco Maria Veracini nach Dresden verpflichtet worden, um dort eine italienische Oper aufzubauen. Zwar bevorzugte August der Starke eher die französische Musik, wie sie Lully am Hofe Ludwigs XIV. pflegte, und die sein Hofkapellmeister Johann Christoph Schmidt bestens beherrschte, aber der Sohn hatte fünf Jahre lang in Venedig nur italienische bzw. venezianische Musik eingeatmet und wollte nicht davon lassen. Außerdem war seine zukünftige Frau musikalisch hoch gebildet. So übernahmen die Italiener das musikalische Zepter, zumal auch Johann David Heinichen, den der Kurprinz noch in Venedig als weiteren Hofkapellmeister nach Dresden empfohlen hatte, ganz nach seinem Geschmack italienisch komponierte.

Lotti führte »Giove in Argo« am 25. Oktober 1717 erstmals in Dresden auf, und es scheint, dass er musikalischen Tugenden der Hofkapelle, die Schmidt seit 1709 zu einem modernen Orchester aufgebaut hatte, voll ausnutzen konnte. Die böhmischen Hornisten bekamen virtuose Aufgaben,  der Konzertmeister, entweder Woulmyer oder Pisendel, spielte im Unisono ohne Basso continuo gemeinsam mit dem Sopran-Kastraten Berscelli die Aria Nr. 39 des Erastro – ein zunächst verblüffender Befund in den Quellen, der verständlich wird, wenn man um die Produktionsweise des dramma per musica weiß. Lotti hatte wohl einen Text von Antonio Maria Lucchini im Gepäck, aber die Entstehung der Partitur erfolgte üblicherweise im Hinblick auf ein konkretes Ensemble.

Trotz der Formelhaftigkeit der venezianische Oper in ihrer schematischen Abfolge von Rezitativ und Arie ist Lottis Musik so lebendig, dass es über weite Strecken eines Textes nicht bedarf: Die Affekte sind so anschaulich und treffend komponiert, dass man der Handlung unmittelbar folgen kann. Es geht zu wie bei einem »Tatort«, aber erfreulicherweise endet alles mit dem lieto fine, dem im 18. Jahrhundert unumgänglichen freundlichen Finale.

Göttervater Jupiter begibt sich als Schäfer auf Erden, um wie üblich eine oder zwei Frauen zu gewinnen, was bei den geplanten Partnern, von denen der eine verkleidet nach seiner Braut sucht, nicht auf Gegenliebe stößt. Ferner ist ein Tyrann zu finden, der für Familientrennung und Tod verantwortlich ist und fliehen musste. Und die Göttin Diana mischt mit: wer aus ihrem Gefolge sich nicht an die Regeln hält, Männerherzen zu entflammen, aber selbst kühl zu bleiben, der drohen schwere Strafen. Jupiter muss am Schluss allerhand regeln und die Richtigen zusammenbringen.

Kein Dresdner Ensemble war in der Lage, zum Jubiläum der Hochzeit von 1719 einen eigenen musiktheatralischen Beitrag zu präsentieren. Zwar konnte man vor Monaten in den Ankündigungen des Schlösserlands Sachsen für das Palais im Großen Garten die Werbung für das Opéra-Ballet »Les quatre Saisons« (Die Vier Jahreszeiten) von Johann Christoph Schmidt lesen, aber je näher der 6. September rückte, um so weniger war zu erfahren, und schließlich verschwand der Hinweis ganz: kein Ruhmesblatt für die Organisatoren. Dafür trat das kleine Lausitzer Barockensemble mit 13 Musikern unter der engagierten Leitung von Enrique Gómez-Cabrero Fernández und einem internationalen Ensemble junger Sängerinnen und Sänger unter der Regie von Szymon Komarnicki an, um auf die Qualität der damals aufgeführten Werke hinzuweisen. Die Premiere fand zwei Tage zuvor im kleinen Neobarock-Theater in Szczawno Zdrój/Bad Salzbrunn statt.

Eleni Ioannidou hat dies alles organisiert. Voraussetzung für die Aufführung war eine moderne Partitur, die nach den Quellen in der SLUB erarbeitet werden sollte. Hier standen sowohl eine komplette Abschrift von Lottis Originalpartitur sowie eine weitere Quelle zur Verfügung, die alle Arien und Ensembles enthielt. Zunächst haben polnische Kollegen die Originalpartitur in ein modernes Notensatz-System übertragen. Alle 44 Nummern wurden danach mit den Quellen und dem Originallibretto verglichen, sodass eine im Notentext verlässliche Partitur entstand. Sie kann gegebenenfalls als Druckvorlage für eine Veröffentlichung innerhalb der »Denkmäler der Tonkunst in Dresden« verwendet werden.

Ideen, das Melodrama pastorale noch mehrfach aufzuführen, gibt es schon. Der Verein Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen hat seine Unterstützung zugesagt. Jetzt müssen nur noch Spielstätten gefunden werden.