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Willkommen in der Kleinbürgerlichkeit der Kunst

Mal wieder eine Reise. Nach Stuttgart. Dort gibt es nach mehr als zwanzig Jahren wieder eine gemeinsame Produktion der Oper, des Balletts und des Schauspiels. Zudem war ich gespannt, wie sich der junge Tänzer Louis Stiens als Choreograf bewährt; hat er es doch Ende des letzten Jahres geschafft, mich im Rahmen eines Projektes der Ausstellung »Ekstase« in einem Workshop ganz schön in Bewegung zu versetzen. Jetzt die große Herausforderung, Choreograf für »Die sieben Todsünden«, eine schon im Vorfeld umstrittene Produktion. Selber erleben ist angesagt. Am Ende frage ich mich: was kann der Brecht dafür, dass er ein Mann war? In Stuttgart wird nämlich das Ballett »Die sieben Todsünden« mit einer Show von Peaches kräftig aufgemischt. Das soll wohl provozieren. Es endet bei Brecht. In der Kleinbürgerlichkeit.

Fotos: Bernhard Weis

»Die sieben Todsünden« also, das Ballett mit Gesang in sieben Bildern, mit dem Text von Bertolt Brecht und der Musik von Kurt Weill, wurde in der Choreografie von George Balanchine in der Ausstattung von Caspar Neher 1933 in Paris uraufgeführt. Später veränderte Brecht den Titel in »Die sieben Todsünden der Kleinbürger«. Für die neue Produktion des Staatstheaters Stuttgart im Schauspielhaus gab es noch eine Erweiterung: Im zweiten Teil des ansonsten zu kurzen Abends sind des jetzt die sieben himmlischen Sünden, die »Seven Heavens Sins«. Das ist eine performative Show der kanadischen Sängerin Peaches. Seit gut 20 Jahren zelebriert sie, so der Programmzettel des Abends, „queer-feministische Lebensweisen“. Dass es nun auch hier einen nicht zu übersehenden und auch nicht zu überhörenden Abnutzungseffekt gibt, wurde in Stuttgart leider offensichtlich.

Wirklich komisch, dass gerade der ideologische Kraftakt der Elektro-Clash-Sängerin Peaches, die aus dem Bühnenhimmel auf die Bretter der Weltbedeutung herabfährt, mit den eigenen noch fünf künstlichen Brüste schaukelt, in einem aufgeblasenen Riesenpenis agiert, die Vagina mit einer leuchtenden Neonröhre ziert, immer wieder von Mösen, Schwänzen, Schlitzen, Ärschen und Analverkehr singt, am Ende doch so ermüdend, kraftlos und vor allem so belehrend wirkt. Willkommen in der neuen Kleinbürgerlichkeit der Kunst. Wenn Brecht in seiner Kritik des Ausbeutungssystems ganz gerne mal den Zeigefinger erhob, dann ist es jetzt die Faust der Sängerin Peaches, die schon mal zur Keule wird. Peaches duldet so gut wie nichts und niemand neben sich.

Die Schauspielerin Josephine Köhler und der Tänzer Louis Stiens dürfen illustrierend assistieren, mehr nicht. Sei es mit übergroßen, vaginalen Fratzenmasken oder in unfreiwilliger Verklemmtheit, wenn sie sich auf das Podium des Tabledances begeben müssen. Es ist, als hätte sich hier, bei diesem herrschsüchtigen Kraftakt der Protagonistin Peaches, die Regisseurin des Abends Anna-Sophie Mahler verabschiedet und sei selbst den strukturellen Zwängen der von ihre herbeigerufenen Geister unterlegen. Das ist schade. Denn zuvor, aber das steht jetzt leider fast nur noch im Schatten, hatte sie schon wesentliche Akzente gesetzt. Denn nach dem „Ballett“ rezitiert sie als Anna eine Art Hommage an die Frauen. Darin reflektiert sie die Tatsache, dass weder Mann noch Frau unterdrückt geboren werden, sondern – ganz im Sinne Brechts – es die Umstände und Verhältnisse sind, die Menschen in die Unterdrückung führen. Und das ist die Größe des Hauptgedankens der Regisseurin und ihrer Dramaturgin Katinka Deeke. Mögen die Todsünden als Symbole religiös institutionalisierter Machtmechanismen der Einschüchterung vielleicht an Kraft der Unterdrückung verloren haben und sich sogar in ihr Gegenteil, in himmlische Visionen gendergerechter, lustvoller Selbstbestimmung verwandelt haben. Die Erkenntnis ist eine Sache, die existenzielle Annahme und Verwirklichung eine ganz andere. Und da gibt es große Momente für die Schauspielerin Josephine Köhler, wenn sie in ihrer Art der Reflexion buchstäblich auf der Kante sitzt, am Rande dieses Brecht´schen Boxrings, auf dem sie zuvor ihre sieben Todsündenkämpfe durchlebt hat, immer wieder den Absprung wagt, mit beiden Beinen auf dem Boden steht, immerhin auf Bühnenbrettern, aber die sollen ja die Welt bedeuten.

Und auf diesen Brettern, im Boxring (nicht gerade eine so total originelle Idee der Bühnenbildnerin Katrin Coonen), in den Kostümen von Marysol Le Mindu, vollziehen sich die Stationen der sieben Todsünden: Faulheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Unzucht, Habsucht und Neid. Als Anna I, die Verkäuferin und Anna II, die Ware, von der Familie auf den Weg durch die Städte geschickt wird, um sich zu verkaufen und Geld zu beschaffen für das kleine, sündenfreie Haus in Louisiana. Dass diese Familie nur von Männern gespielt und gesungen wird, verweist deutlich auf die Doppelmoral familiärer Ausbeutungsmechanismen.

In dieser Inszenierung gibt es die Anna in vierfacher Gestalt. Peaches singt die meisten der Monologe, die Tänzerin Melinda Witham geistert immer wieder durch die Szene, der Tanz bleibt Josephine Köhler, die als Schauspielerin auch von starker, tänzerischer Präsenz ist, und dem Tänzer Louis Stiens vorbehalten. Stiens verantwortet auch die Choreografie, in der er die ohnehin vorhandenen tänzerischen Assoziationen des Boxkampfes aufnimmt und bis in die abstrakte Form assoziativer Bewegungssprache führt. Zudem beweist er ein hohes Maß an Musikalität in der Ausdeutung der rhythmischen Vorgaben von Kurt Weill, der mit musikalischen Formen, wie Tarantella, Foxtrott, Marsch oder Walzer, in die Milieus damaliger Unterhaltungs- und Vergnügungsrevuen führt. Musikalisch wird dieser Lebens- und Überlebenstanz nicht nur klanglich, auch optisch gerahmt von den Mitgliedern des Staatsorchesters Stuttgart, die den Boxring unter der Leitung von Stefan Schreiber umspielen. Am Ende wirft dieser Abend mit seinen absichtsvollen Entlarvungen sündiger Unterdrückungsmechanismen und seinen widerständigen Provokationen des Aufschreis immerhin etliche Fragen auf. Beantworten lassen sie sich nicht. So ist es vielleicht mehr als ein Zeichen, eher ein ästhetisches Signal, dass am Ende aus der Ferne Klänge von Charles Ives aus »The Unanswered Question« erklingen. Dazu zitiert in sensibler, tänzerischer Zerbrechlichkeit Melinda Witham, die sich mit dieser Produktion als Tänzerin verabschiedet, Anklänge an die Versuche, vornehmlich weiblicher Selbstbestimmung körperlicher Ausdrucksweisen des deutschen Ausdruckstanzes. Wichtige Vertreterinnen dieser Kunst des Aufbruchs wie Gret Palucca oder Mary Wigman waren nicht davor gefeit, autoritären, männlichen, braunen Stuckaturen zumindest gewisse Sympathien entgegenzubringen. Die Nachwelt hat ihnen verziehen. Sollten da nicht auch den Schöpfern des Balletts »Die sieben Todsünden«, Bertolt Brecht und Kurt Weill, verziehen werden, dass sie von Geburt an eben männlichen Geschlechts, dazu noch weiß und heterosexuell waren?

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