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1968 verschlafen?

Zwei Kinder auf dem Spielplatz. Ein rotes Eimerchen, das niemand beachtet. Sobald eines den Blick darauf wirft, greift das andere zu. „Will haben!“ – „Meins!“ – „Ich zuerst!“ Ein Wort gibt das andere. Wenig später liegt der Eimer wieder unbeachtet im Sand, die beiden Rangen aber bewerfen sich mit Sand und überraschenden Worten. Schon bald fliegen die ersten Steinchen. Wenn jetzt nicht bald jemand eingreift, wird Blut fließen.

Die beiden Dummchen, nennen wir sie beispielsweise Donald und Recep, gerne auch Tayyip und John, dürften mit etwas Glück das Sandkastenalter überlebt haben. Kein Stein hat ernsthaft verletzt. Aber der Schaden sitzt tief. „Wenn du nicht, dann ich …“ – „Wenn du, dann ich auch …“ – „Na warte, jetzt werd’ ich …“

Jedes Jahr im August wird an vielen Orten der Welt daran erinnert, dass am 6. und 9. August 1945 von U.S.-Militärs zwei Atombomben abgeworfen worden sind, die erste auf Hiroshima, die zweite auf Nagasaki. Bislang hat kein zweiter Staat einen solchen atomaren Massenmord initiiert. In diesem Monat wird nun aber auch an den Prager Frühling erinnert, der vor genau einem halben Jahrhundert mit enormen Hoffnungen freiheitlicher Demokratie verbunden war – und von sowjetischen Panzern blutig niedergewalzt worden ist. Denken Sie noch an die beiden Kinder auf dem Spielplatz?

1968 war Europa – Studentenproteste in Frankreich und Polen, studentische Unruhen auch in der Bundesrepublik, in West-Berlin wird Rudi Dutschke von der Polizei angeschossen -, war aber auch die Welt im Umbruch: Die U.S.A. lassen Zivilisten in Vietnam ermorden (Massaker von Mỹ Lai), Martin Luther King wird in Memphis, Robert F. Kennedy in Los Angeles erschossen… 1968 wurde im Nachhinein als „das längste Jahr“ bezeichnet. Jetzt, ein halbes Jahrhundert danach, scheint die Zeit ein anderes Tempo eingeschlagen zu haben. Im Minutentakt erreichen uns Meldungen von erschlagenen und missbrauchten Kindern, von kindischen Politikern, von brutalen Burschen.

Am 21. August 1968 hat sich Europa wieder einmal verändert. Gewandhauskapellmeister Vaclav Neumann legte wegen der Intervention von Truppen des Warschauer Pakts sein Leipziger Amt nieder. In Dresden malte der Künstler und Architekt Jürgen Schieferdecker sein Bild »Prager Sommer 1968«. Er ist dieses Jahr für den Dresdner Kunstpreis gekürt worden. Eine späte, aber überaus verdiente Ehrung. Das Dresdner Musikleben allerdings hat das Jahr 1968 – verschlafen? Und das inzwischen vergangene halbe Jahrhundert ebenfalls?

Das rote Eimerchen liegt wieder unberührt in der Sandkiste. Der Nachwuchs versteht glücklicherweise noch nichts von Strafzöllen und Embargopolitik. Morgen gibt’s den nächsten Streit. So viel ist sicher. Dabei hätte man von 1968 doch so viel lernen können!