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Lü-gen-o-per!

Dresden hatte eine Bringeschuld gegenüber Mischa Spoliansky. Der 1898 in Bialystok geborene und beizeiten relativ unbehaust durch Europa tingelnde Musiker soll hier seinen ersten öffentlichen Auftritt absolviert haben. Später startete er im ‚Goldenen‘ Berlin eine gefeierte Karriere, die mit der Machtergreifung der Nazis ein abruptes Ende fand. Spoliansky emigrierte nach London. In Deutschland sollte er tausend Jahre lang vergessen bleiben.

Sein Stück »Alles Schwindel« ist tatsächlich lange Zeit unbeachtet geblieben. 1931 kam es mit großem Pipapo im Theater am Kurfürstendamm heraus und schwamm auf der Welle der Vergnügungsindustrie in der Zwischenkriegszeit. Beherzt nahm es damals mit einer Musik voller Verve, die auf einem Libretto von Marcellus Schiffer basiert, die Verlogenheit bürgerlicher Scheinwelt aufs Korn, brüskierte damit so manchen Möchtegern-Bourgeois, auch wenn der womöglich über sein Spiegelbild auf der Bühne ganz herzhaft gelacht hat. Genau diese nach wie vor gültige Doppeldeutigkeit macht Spolianskys Burleske auch heute so wertvoll. Entsprechend hochgesteckt waren die Erwartungen vor der Premiere dieser Wiederentdeckung auf Semper Zwei.

Foto: Klaus Gigga

Eingedeckt war die Spielstätte mit dem Flair eines Revuetheaters. Das Publikum logierte an runden Tischen und war ausdrücklich dazu eingeladen, sich für die Vorstellung mit geistigen Getränken zu wappnen. Ach, hätte man doch eine Flasche Champagner bestellt! Dann wäre der Abend womöglich spritzig geworden.

So aber:
„Ein Feuerwerk der Musik!“ – Schwindel.
„Eine geistreiche Inszenierung!“ – Schwindel.
„Ein hin- und mitreißendes Ensemble!“ – Schwindel.
Und kein Champagner, nicht einmal Glühwein, nur Traubensaft, klebrig und süß.

Spolianskys Vorlage, die für die Wiederauferstehung in Dresden von Max Renne für kleines Kammerorchester arrangiert worden ist, hätte alles Zeug für eine zündende Performance. Sie besticht durch mitreißende Melodien, einiges Ohrwürmeln dabei, und scharf pointierter Rhythmik. Aber da geht es schon los: Manche Sängerdarsteller schlagen einen anderen Takt an als die Kapelle in ihrem Rücken. Und das ist noch lange nicht alles: Sie erweisen sich als Opernsänger, wollen aber eine Revue geben, also überzeichnen sie heftig. Mitunter über die Grenzen der Klamotte hinaus. So werden viele Chancen vertan, geistreiches Amüsement und Raffinesse leider – »Alles Schwindel« –  mehr behauptet denn präsentiert.

Der Drive in den Noten wird überwiegend mit angezogener Handbremse serviert – verschenkt.
Die Parallelen der Verlogenheit damals zur Verlogenheit heute – verschenkt.
Das für Gänsehaut und Herzklopfen sorgende Esprit – verschenkt.

Dabei ist dem jungen Regisseur Malte C. Lachmann ein äußerst inspiriertes Ensemble an die Hand gegeben worden, hat er sich flotte Spielideen überlegt und den Raum auf Semper Zwei von Daniel Angermayr stilecht ausstatten lassen. Cabaret-Ambiente mit Kostümen von schlicht bis exzentrisch, die Anna van Leen für diese Produktion entworfen hat. Aber kein Cabaret-Feeling. Woran krankt es? Dass »Alles Schwindel« die pure Wahrheit ist? Die Menschen gieren nach Liebe, nach Nähe – und um dies zu erreichen, tischen sie sich und ihrer Umgebung allerhand Lügen auf, glauben irgendwann selbst dran. Arthur Henschke motzt sich zum vermögenden Tonio Hendricks auf, um die schicke Evelyne Hill zu erobern, die sich aber als Erna Schmidt erweist. Oder ist auch das nur alles erlogen?

Eric Stokloßa und Jennifer Porto mimen dieses Paar, das erst noch Paar werden will, mit Hingabe und Inbrunst, sind aber nicht immer textverständlich, manchmal in ihrem Spiel zu verhalten; da fehlt den Schwindlern ein Augenzwinkern, obwohl sie beide mit den Äuglein hübsch spielen und im Grunde ihrer Herzen ja grundehrlich scheinen. In Doppel- und Dreifachrollen sind auch Sabine Brohm, Angela Liebold und – mit jazzig souligen Anflügen – Tichina Vaughn sowie Jennifer Riedel zu sehen, die verlogene Wechselspiele gestalten, ebenso Martin Gerke, Gerald Hupach und Barry Coleman. Hier und da flutscht das Ganze und amüsiert, dann wieder hakt es und hinkt es, wirkt peinlich und vergibt die mögliche Wirkmacht.

Aber lassen Sie sich (nicht) belügen, machen Sie sich selbst ein Bild – das Wiederentdecken könnte sich lohnen. Auch wenn es alles andere als die Wahrheit ist.

Termine: 21., 24., 26. und 28. Januar 2017