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Ungewöhnliche Wiederaufführung zum Neunzigsten

Foto: Betina Stock
Foto: Betina Stock

„Den Kindern, in Kriegen getötet“ lautete der Titel des Chorzyklus, im Auftrag der Musikfestspiele von Mikis Theodorakis 1982 komponiert und am 21. Mai 1983 im Plenarsaal des Rathauses vom Kreuzchor unter der Leitung von Martin Flämig aufgeführt. Es ist ein tiefes spirituelles Bekenntnis eines Menschen, der Schreckliches in seinem Leben durchmachen musste. Dennoch ist es kein religiöses Werk, auch wenn es sich strukturell um eine Liturgie, ein Nachtgebet, handelt. „Engelsgleiche“ Knabenstimmen erzählen hier von Kinderschicksalen. An Stelle Gottes werden Namen von drei Kindern genannt, welche Opfer von Kriegen geworden sind: Anne Frank, Ibrahim, Emiliano. Sie stehen metaphorisch für alle Kinder, denen Leid und Tod widerfahren ist. Sie werden in der „Liturgie Nr. 2“ heiliggesprochen. Doch nicht nur die Kinder, auch Che, Partisanen, Musiker. Würdigung, Anbetung, philosophische Poesie…

Die Vorgeschichte zur Uraufführung dieses komplexen Werkes ist lang. Zum einen, was den Komponisten Mikis Theodorakis betrifft. Zum anderen die Kulturpolitik in der DDR. Beides hing miteinander zusammen und entfachte in den achtziger Jahren eine Welle der Euphorie und Begeisterung unter den Menschen, die auch hinsichtlich der Kultur die Mangelwirtschaft zu spüren bekamen.

„Können knappe biografische Daten einen Menschen charakterisieren?“ Diese Frage stellte der Dresdner Musikkritiker Peter Zacher in einem Artikel anlässlich Theodorakis‘ 60. Geburtstag. Sie zeigten nicht das Wesentliche des Menschen, argumentierte Zacher; dennoch sei an ihnen die Inspiration für das Handeln ablesbar, besonders im Falle des griechischen Komponisten. Das zeigten einige Eckdaten des bewegten Lebens von Theodorakis.

Er wurde am 29. Juli 1925 auf der Insel Chios geboren. In Berührung mit Musik kam er erstmals durch einen Kirchenchor und ein Grammophon, welches ihm sein Onkel schenkte. Auf dem hörte der junge Mikis Wiener Walzer, Jazzmusik und griechische Lieder. Anfang der vierziger Jahre schloss er sich dem kommunistischen Widerstand an und kämpfte als Partisan gegen italienische und deutsche Besatzer. Es folgten Gefangennahme und Folter. Nach seinem Studium der Musiktheorie am Konservatorium Athen geriet Theodorakis in Verbannung und wurde abermals gefoltert, diesmal im Vernichtungslager auf der Insel Makronisos. Das Komponieren war für ihn ein Akt der Verzweiflung und gleichermaßen Festhalten an einer Zukunft.

In den Fünfzigern atmete Theodorakis Freiheit: als aufstrebender Komponist sinfonischer Musik studierte er in Paris bei Olivier Messiaen Musikanalyse und Orchesterleitung bei Eugène Bigot. Er wandte sich von der Dekadenz der radikalen Avantgarde ab, auch wenn er dafür von Seinesgleichen belächelt wurde. Ihm lag eine weitaus lebendigere, volkstümlichere Musik am Herzen, welche ihn zu seinen griechischen Wurzeln führte: das Volkslied und die Texte der bedeutenden Lyriker Griechenlands wie Giannis Ritsos, Giorgos Seferis, Manolis Anagnostakis oder Tasos Livaditis. Seine neue Ästhetik und die Rückkehr nach Athen bescherten ihm einen riesigen Erfolg und setzten eine kulturelle Revolution in Gang. Das neue griechische Lied wurde Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins. Die linke Lambrakis-Jugendbewegung, deren Kopf Theodorakis war, wuchs bis auf 300.000 Mitglieder.

Die Begeisterung währte allerdings nicht lange. Nach dem Militärputsch am 21. April 1967 wiederholten sich für Theodorakis die grausamen Erlebnisse der vierziger Jahre. Seine Musik, als „Bündnis mit dem Kommunismus“ verrufen, wurde in Griechenland unter Androhung harter Strafen verboten. Eine weltweite Solidaritätskampagne zwang die Obristen, ihn freizulassen, woraufhin er sich nach Frankreich ins Exil und anschließend auf eine vierjährige Welttournee begab, die an fünfhundert Abenden Stadien und Konzerthallen füllte. Vom Exil aus proklamierte er gegen die Diktatur in Griechenland und für Frieden auf der Welt. Erst 1974, nach dem Sturz der Militärjunta, war es für ihn möglich, wieder nach Griechenland zu zurückzukehren.

Die Menschen in der DDR hatten seit den sechziger Jahren eine emotionale Bindung zu Mikis Theodorakis. Studenten der TU Dresden gingen für seine Freilassung und gegen die Junta auf die Straße, Schüler schickten Postkarten an den Gefangenen. Die sozialistische Führung jedoch sah eine Gefahr in dem Widerstandskämpfer – die eurokommunistischen Interessen des Griechen und seine Ausweisung aus der Diktatur waren ihr suspekt. Anfang der Siebziger wurde seine Musik in der DDR seltener gespielt. Moskau drängte gar auf eine Verurteilung. Während Theodorakis schon längst zu einer Legende geworden war, konnte sich der Ostblock nur schwer für seine Person erwärmen.

Peter Zacher nun hatte sich früh mit der Musik des griechischen Komponisten beschäftigt. Als Leiter der Folkloregruppe „Pasaremos“ interpretierte er 1967 in Dresden einige Lieder aus dem Zyklus „Griechentum“ (Romiosini). Während der nächsten zehn Jahre war dies tabu. Doch das änderte sich schlagartig im Jahre 1980 und ist eben Zacher zu verdanken, auf dessen Engagement die Theodorakis-Renaissance maßgeblich zurückging. Die „Theodorakis-Welle“ schwappte über und riss begeisternd die Massen mit sich. Mit der DDR-Erstaufführung des Canto general, dem „ungriechischsten“ Werk des rehabilitierten Komponisten, begannen einige Jahre der intensiven Zuwendung der DDR-Führung zum Komponisten. Die Bühne dafür bot das Festival des Politischen Liedes; Theodorakis selbst dirigierte die Aufführung mit dem Berliner Rundfunkchor. Diese Plattform wurde auch in den folgenden Jahren zum beliebten Mekka nicht nur der Theodorakis-Fans. Schließlich standen dort internationale Künstler gemeinsam auf dem Podest. Dank seines Leiters Christian Hauschild hatte der ehemalige FDJ-Schulchor der Kreuzschule Dresden zweimal die Chance, in Berlin zusammen mit Theodorakis und bekannten griechischen Sängern und Sängerinnen wie Petros Pandis, Maria Farantouri und Dimitra Galani dessen Werke aufzuführen.

Selbst der Dresdner Kulturpalast und die Musikfestspiele entwickelten sich zum beliebten Aufführungsort von Theodorakis‘ Werken. So waren die Dresdner Musiker mehrmals in die weltweit beliebten Konzerte des charismatischen Griechen eingebunden. Der Beethovenchor, der Schulchor der Kreuzschule, das Orchester der Musikhochschule, Pädagogen der Bezirksmusikschule und Solisten wie Gunther Emmerlich brachten Werke wie »Axion Esti« oder die »Frühlingssinfonie« zu ihrer DDR-Erst- oder sogar Uraufführung.

Die damalige Bevorzugung von Theodorakis ist durchaus auch sehr nachdenklich zu bewerten. War die DDR-Führung so naiv zu glauben, Theodorakis selber würde eine Instrumentalisierung seiner Musik nicht auffallen? Zeitgenössische Zeitungsberichte und Rezensionen seiner Konzerte Anfang der achtziger Jahre sprechen diesbezüglich Bände.

Theodorakis war in seiner Haltung offenbar gespalten. Selber Symbol des linken Widerstandes, nahm er eine politische Vermarktung billigend in Kauf, auch wenn seine Rolle für einige nicht mehr von der DDR-Politik zu trennen war.  Doch die Motivation für Theodorakis war niemals die Karriere, sondern die Musik: „Das einzig Wichtige für mich war der Kontakt mit dem Publikum. Wenn meine Werke wahrhaftig und meine Gedanken und Anschauungen richtig waren, dann musste dieser Kontakt zu einem positiven Erlebnis führen“ (in: Mikis Theodorakis, hrsg. von Asteris Kutulas, Mainz 2010, S. 127).
Einige Dresdner, die damals aktiv mitgewirkt haben oder die Melodien seiner Lieder heute noch mitsingen können, die diesen Komponisten aus dem „kapitalistischen Ausland“ erlebt haben, wie er mit der Zigarre in der Hand dirigierte, nein, tanzte!, geraten auch heute noch ins Schwärmen.

Peter Kopp, Leiter des Vocal Concert Dresden, war damals selbst Mitglied des Kreuzchors und wirkte an der Uraufführung der „Liturgie Nr. 2“ und der anschließenden Schallplattenproduktion mit. Seitdem wünscht er sich, dieses Werk noch einmal zu erarbeiten. Ab der Mitte der achtziger Jahre war es in Dresden ruhiger geworden um den Starkomponisten. Bis auf die einmalige Widmung der Liturgie kam es zu keiner weiteren Zusammenarbeit.

Seit eineinhalb Jahren nun ist der Gedanke einer erneuten Aufführung konkreter geworden; auch Peter Zacher war ins Bild gesetzt worden, und hätte die Aufführung sicherlich mit größter Aufmerksamkeit verfolgt. So ist das Konzert, sagt Peter Kopp, sicherlich persönlich motiviert; den Anlass für die Aufführung gab letztendlich der 90. Geburtstag von Mikis Theodorakis. Der wird zwar nicht dabei sein, hat allerdings schon Grüße bestellen lassen.

Das Konzert beginnt, gemäß der Konzeption als Nachtgebet, um 21 Uhr. Neben der Liturgie werden Werke von Orlando di Lasso, Arvo Pärt, Pjotr Tschaikowski und Dmitri Schostakowtisch erklingen. Im Anschluss wird die Filmbiographie „Mikis Theodorakis – Komponist“ von Asteris Kutulas und Klaus Salge gezeigt.

Philipp Schubert