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Mitreißende Besessenheit

Ohne Albrecht Goetze gäbe es ihn nicht, den Meetingpoint Music Messiaen. Dieser Verein und das daraus resultierende Europäische Zentrum für Bildung und Kultur in Görlitz-Zgorzelec sind die Krönung seines Lebenswerks. Jetzt gibt es Albrecht Goetze nicht mehr – hier der Versuch eines Nachrufs.

Foto: M.E.
Foto: M.E.

Jede Begegnung mit ihm war faszinierend. Ob Schulkinder oder Studenten, ob namhafte Künstler oder routinierte Politiker, er hat sie alle angesteckt. Denn Albrecht Goetze war im allerbesten Sinn des Wortes ein Besessener. Besessen von der Idee einer besseren Welt, besessen vom Glauben an die Kunst, die Menschen verbindet und sie vom Barbarentum unterscheidet.
Der im Juni 1942 in Leipzig geborene Albrecht Goetze schöpfte seine Besessenheit aus einem vielseitigen Leben. Er hat Werkzeugmacher gelernt, ist in sehr jungen Jahren erst nach Westberlin, dann in die Bundesrepublik gezogen, hat für Furore gesorgt an Theatern zwischen Hamburg und München, war die Lebenslust pur und hat sich stets selbst verwicklichen wollen als Künstler und Sinnstifter. Goetze hat erfolgreich als Regisseur gewirkt, war als Komponist tätig und hat der Literatur gefrönt. Mehrfach in seinem bewegten Leben erfand er sich neu, jedesmal aber aus einem humanistischen Antrieb heraus, immer vom Glauben an die Kraft der Vernunft beseelt.
Der vielleicht prägendste Wandel in seiner Vita liegt inzwischen mehr als ein Jahrzehnt zurück. Ausgelöst wurde er durch Musik. Als Albrecht Goetze das „Quartett auf das Ende der Zeit“ hörte, das „Quatuor pour la fin du temps“ von Olivier Messiaen, war er begeistert. Auf der Partitur dieses einzigartigen Stücks für Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier fand er einen Hinweis auf den Entstehungsort: Görlitz, Stalag VIII A. Goetze zog es geradezu magisch dort hin, er suchte erfolglos in Görlitz nach diesem „Stammlager“ der Nazis. Fündig wurde er erst auf polnischer Seite, in Zgorzelec, wo am Stadtrand die Reste des einstigen Kriegsgefangenenlagers in einem verwilderten Waldstück dem Vergessen anheim fielen.
Andere Menschen sahen dort Mischwald und künftigen Baugrund. Goetze sah einen Ort des Schreckens, an dem unter unsäglichem Leid große Musik entstanden und uraufgeführt worden ist. Er sah einen Ort des Besinnens, einen Ort der Begegnung – und mit dieser Idee überzeugte er nach und nach Bürgermeister und Landräte, Minister und Präsidenten, Förderer aus der Wirtschaft und nicht zuletzt sogar Europa-Abgeordnete, die vermutlich von Messiaen und seiner Musik nie zuvor etwas gehört hatten.
Fortan wollte Albrecht Goetze dort leben, wo diese Musik entstanden ist. Er brach mit seinem bisherigen Leben, zog nach Görlitz, arbeitete am Theater, schuftete nach dortigem Stellenabbau in dürftigen Broterwerbsjobs, um seine Vision von einer internationalen Begegnungsstätte auf dem einstigen Lagergelände voranzutreiben.

Schritt für Schritt kam die Idee des Meetingpoint Music Messiaen auf ihrem Nationen und Generationen verbindenden Weg voran. Aus der Idee erwuchs die Vereinsgründung. Der Verein sorgte für Öffentlichkeit und organisierte internationale Jugendarbeit, um nach und nach das Gelände des ehemaligen Lagers zu sichern, zu erschließen und für den Wandel in einen bleibenden Erinnerungsort vorzubereiten. Seit einigen Jahren erklang das Quartett von Messiaen jeweils zum Uraufführungstag am Ort seiner Entstehung. Bewegende Wintertage im Zelt bleiben unvergesslich, ebenso aber der 15. Januar 2015, als mit dieser Musik das Europäische Zentrum für Bildung und Kultur Meetingpoint Music Messiaen eröffnet werden konnte.

Zu dieser Zeit war Albrecht Goetze schon schwer krank. Er nahm aus der Ferne stets Anteil am Fortgang seiner inspirierenden Arbeit und dürfte sich über diese Krönung außerordentlich gefreut haben. Ein Besuch aber in diesem zukunftsträchtigen Neubau war ihm nicht mehr vergönnt. Am 25. April ist er, wie seine Angehörigen jetzt mitgeteilt haben, in Berlin seiner Krankheit erlegen.