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Die Mitte liegt ostwärts

Bulgarien und Ballett, ja klar, der Wettbewerb in Varna, seit nunmehr 50 Jahren, seit 1964. Wer dabei war, kann das schon als Auszeichnung in die Biografie schreiben. Wer einen Preis errang, kann sich zu Gute halten, diesen beim ältesten Ballettwettbewerb, dessen Renommee noch immer hoch geachtet ist, errungen zu haben.

Bulgarische Tänzerinnen und Tänzer, man sieht sie weltweit, aber man hört wenig über Aufführungen in ihrer Heimat. Auch ist es inzwischen still geworden um die Kompanie »Arabesque«, hervorgegangen als Ballettkompanie für zeitgenössischen Stil aus dem 1967 in Sofia gegründeten Experimentellen Tanzstudio. Sicher, zeitgenössische Tendenzen, aber Tanz, moderner Tanz, freie Kompanien, freie Produktionen, in Bulgarien? Da wissen wir wenig. Da wissen wir überhaupt wenig im Hinblick auf die Szene in Osteuropa.
Damit wollte sich der Leipziger Theatermann und Begründer des Büros für Off-Theater, Knut Geißler, schon vor mehr als 20 Jahren nicht zufrieden geben. Er gründete das Festival »off Europa«. 1992 fand es zum ersten Mal in Leipzig statt, seit einigen Jahren in Leipzig und Dresden; demnächst kommt Chemnitz dazu. Mit Haut und Haar verschreibt sich das Festival jedes Jahr einem Land, und Festivalbegründer Geißler wird nicht müde, sich immer wieder dieser Idee mit intensiver Hingabe zu widmen. Er reist und sucht und findet; und der Blick geht nach Osten. Ganz im Sinne des Spezialisten für die Kultur im Osten Europas und seiner Bücher, Karl Schlögel, ist er überzeugt: „Die Mitte liegt ostwärts!“

Jetzt hat er seine Überraschungen für das Festival in Bulgarien gefunden. Geißler hat ein Programm zusammengestellt unter dem Motto »Rand.Reichtum«. Denn Bulgarien – seit 2007 Mitglied der EU – liegt am Rand, auch weit am Rand der Wahrnehmung. Was hören wir schon, was ist der Berichterstattung wert. Im Vorwort zum Programmheft des diesjährigen Festivals stellt Knut Geißler fest, dass beim Stichwort Bulgarien das von der Armutszuwanderung in Deutschland nicht weit ist, und er möchte mit dem Festival, vom 19. bis 28. September in Dresden und Leipzig, eine „Art temporärer Reichtumszuwanderung“ initiieren.

Was den Tanz angeht, ist das Festival in diesem Jahr mit drei Produktionen und einer genreüberschreitenden Performanceproduktion sowie einem Gastspiel des international bekannten Ivo Dimchev bewegt aufgestellt. Zum Thema »Aufbruch – Theater und Tanz in Bulgarien« gibt es am 22. September im Leipziger LOFFT und am 24. September im Societaetstheater Gespräche mit der Regisseurin Gergana Dimitrova, die in Sofia und Berlin studierte und einige Zeit in Dresden gearbeitet hat.

Das erste Tanzgastspiel präsentiert nach einer Idee von Martin Panev der Tänzer Stanislav Genadiev in eigener Choreografie. »Big Gun«. Von Comic bis Computerspiel, ein kühnes Solo, ein mann und seine stereotypen Vorstellungen von Männlichkeit, ein Träumer, ein Spieler, ein großes Kind. Warum, fragt sich Irina Goleva in ihrer Musik-Tanz-Performance »Identity«, gehen Menschen in Bulgarien so anhaltend und intensiv zu Volkstanzkursen? Fragen der Suche nach Identitäten, nach Wurzeln, nach Familie, nach Selbstbewusstsein, in einem Land, das mit mannigfachen Entwurzelungen umzugehen hat. Tanz als Fitness und Therapie? Getanzte Fragestellungen, humorvoll, hintergründig, augenzwinkernd, aber vor allem temperamentvoll zu live gespielter Musik und viel Freude an der Bewegung. Beide Aufführungen, jeweils am 20. September im Leipziger UT Connewitz und am 23. September im Dresdner Societaetstheater.

»Monocrossing« heißt das Gastspiel der Derida Dance Company, am 22. September im Leipziger LOFFT und am 24. September im Dresdner Societaetstheater. Hier agieren und kämpfen zwei Tänzer in Räumen, die von einer Dramaturgie des Lichtes vorgegeben und beständig verändert werden. „Ein Live-Erlebnis wie in einem aggressiven Traum“, und somit eine Thematik, wie geschaffen für den Tanz. Die Derida Dance Company hat Knut Geißler unweit des Stadtzentrums von Sofia in einer ehemaligen Schokoladenfabrik entdeckt. Derzeit dürften diese Kompanie mit eigener Schule, mit Aufführungen und Workshops, die bestens organisierte Adresse für freien Tanz in Bulgarien sein.

Foto: PR

Einen Satz des griechischen Philosophen Heraklit hat der Performer Willy Prager als Motto für seine Arbeit gewählt: „Es gibt nichts Dauerhafteres als die Veränderung“. Folglich heißt sein Stück, mit dem er am 26. September in Leipzig und zwei Tage später in Dresden gastiert, »Transformability«. Prager, der in Sofia, Plovdiv und Berlin studierte, gehört zu den Mitbegründern des bulgarischen Performancefestivals »Antistatic« und der NOMAD Dance Academy. Sein Festivalbeitrag entstand als Koproduktion mit den Tanztagen Berlin.
Willy Prager hat auch mit Ivo Dimchev zusammengearbeitet – und Dimchev kommt mit drei Produktionen an zwei Abenden zum Festival off Europa.

Im Dresdner Societaetstheater zeigt er am 25. September »Lili Handel«, jenes Stück, mit dem seine internationale Karriere begann. Mit diesem Beitrag geht der Blick gewissermaßen noch einmal zurück. Im zweiten Teil des Dresdner Abends mit dem Titel »Som Faves« verknüpft der Künstler persönliche Erfahrungen und Erlebnisse in einer mittlerweile inszenierten Abfolge. Ursprünglich konnten die Zuschauer sich nach eigener Auswahl den Abend selbst inszenieren. Zuvor schon, am 23. September, bei seinem Gastspiel im Leipziger LOFFT, gastiert Ivo Dimchev mit seinem neuesten und vielleicht widersprüchlichsten Stück. Es heißt »ICure«. Angekündigt ist eine Kur mittels Kultur; dabei werden alle Gattungsgrenzen des „Heilmittels“ gesprengt. Das ist nicht immer gut auszuhalten, manche „Zuschauer-Patienten“ brechen diese Therapie vorzeitig ab.

Foto: PR

Für manche Kritiker stand nach der Wiener Uraufführung im August fest: mit dieser Arbeit „breche (er) alle Tabus, mache sich selbst zur Kunstfigur, zwinge seine Zuschauer, ihre selbst gesetzten Grenzen von Moral und Kunst, von Satire und Geschmacklosigkeit zu überdenken.“ Und vielleicht sei ja genau diese Therapie ein Angebot zur kathartischen „Heilung, die er beim Publikum anstrebt.“ Für andere war Dimchevs Radikalkur alles andere als heilsam: „Icure ist nicht radikal. Nur traurig, menschenverachtend und unendlich dumm“, so der Rezensent im Wiener »Standard«, ganz im Gegensatz zum oben zitierten Eindruck.
Es spricht für die Festivalmacher, dass Sie sich auf Risiken einlassen. Wer sie kennt, weiß, dass dies nicht die pure Lust an der leichtfertigen Provokation geschuldet ist. Es ist der Versuch, unsere Blicke immer wieder ostwärts zu lenken und uns mitzunehmen auf ästhetische Gratwanderungen. Wenn sich hier am Ende Botschaften aus dem Osten mit tänzerischen, theatralen und performativen Vermittlungsformen des Westens mischen, dann kann dieses mutige Festival erneut mit europäischen Dimensionen aufwarten. Die sind streitbar. Aber was denn sonst!