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Der Jähzorn des Dirigentendirigenten

Untrennbar ist der Name Fritz Reiner bis heute mit dem Chicago Symphony Orchestra verbunden. Zehn Jahre lang, von 1953 bis 1963, leitete er das berühmte Ensemble vom Lake Michigan, das er zum Inbegriff höchster Orchesterkultur formte. Davon künden zahlreiche Aufnahmen, die als Meilensteine der Schallplattengeschichte gelten. Vielen Musikliebhabern ist allerdings nicht bekannt, dass der gebürtige Ungar seine wahrscheinlich wichtigste Prägung in Dresden erhielt, wo er von 1914 bis 1921 als Hofkapellmeister wirkte. Hier lernte er – in allabendlichen Opern- und Konzertdirigaten in der Semperoper – sein musikalisches Handwerk, und hier traf er auch mit Richard Strauss zusammen, als dessen Interpret er später neue Maßstäbe setzte. Vor 50 Jahren, am 15. November 1963, starb der große Dirigent mit 74 Jahren in New York City. 

Fritz Reiner dirigiert die Hofkapelle (um 1917-18), Foto: Hugo Erfurth, Archiv der Staatsoper Dresden

Frederik Martin Reiner, geboren am 19. Dezember 1888 als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie in Pest, war ein musikalisches Wunderkind und spielte bereits mit neun Jahren öffentlich das „Krönungskonzert“ von Mozart. Später studierte er an der Budapester Liszt-Akademie bei Hans Koessler und Béla Bartók. Als Dirigent debütierte er 1910 als Einspringer in einer „Carmen“-Vorstellung an der Budapester Oper – schnell folgten erste Kapellmeisterpositionen in Laibach und an der Budapester Volksoper. Hier wurde das Dresdner Sängerehepaar Plaschke-von der Osten auf den jungen Dirigenten aufmerksam und empfahl ihn an die Hofoper nach Dresden. Im Juni 1914, wenige Monate nach dem Tod des Generalmusikdirektors Ernst von Schuch, absolvierte Reiner hier drei „Probedirigate“ – danach verpflichtete ihn Graf Nikolaus von Seebach als Hofkapellmeister neben dem bereits seit 1898 in dieser Funktion tätigen Hermann Kutzschbach. Die Position des Generalmusikdirektors blieb vorerst unbesetzt.

Damit begannen für Reiner, der sich fortan „Fritz“ nannte, die sogenannten „Galeerenjahre“, die seinem Dirigieren den entscheidenden Schliff verliehen. In den folgenden siebeneinhalb Jahren leitete er im Semperbau mehr als 800 Aufführungen von 47 verschiedenen Opern, hinzu kamen rund 40 Symphoniekonzert-Programme mit über 150 verschiedenen Werken. Große Aufmerksamkeit errang er schon früh als Wagner-Dirigent: Mindestens einmal im Jahr dirigierte er einen kompletten „Ring“-Zyklus, außerdem den „Parsifal“, der eines seiner Dresdner Probestücke gewesen war; 1919 feierte er mit einer Neuproduktion des „Rienzi“ einen überwältigenden Erfolg. Im selben Jahr leitete er auch die deutsche Erstaufführung der „Frau ohne Schatten“, die ihm – nur wenige Tage nach der Wiener Uraufführung – den großen Respekt von Richard Strauss einbrachte. Mit Strauss stand Reiner in seiner Dresdner Zeit in freundschaftlichem Kontakt, man spielte gemeinsam Skat und tauschte sich über Kompositionen aus. Auch den Dirigenten Strauss hat Reiner in Dresden häufig erlebt – neben Arthur Nikisch dürfte dies der wichtigste Einfluss für seinen eigenen präzise-sachlichen und ungeheuer ökonomischen Dirigierstil gewesen sein.

Auch am Opernhaus soll der charismatische Künstler zahlreiche Affären gehabt haben (Foto: Genja Jonas, Archiv der Staatsoper Dresden)

Aber es gab auch Schwierigkeiten, die nicht zuletzt mit Reiners problematischem Charakter zusammenhingen (sein jähzorniges Temperament bot in Amerika später Anlass für unzählige Anekdoten). In Dresden ging seine erste Ehe in die Brüche, Reiner hatte am Opernhaus zahlreiche Affären, aus denen auch eine uneheliche Tochter hervorging. In der Zusammenarbeit mit der Hof- bzw. Staatskapelle genoss er großen Respekt – aber keine Zuneigung. Der Geiger und spätere Orchesterdirektor Arthur Tröber erinnerte sich: „Man verglich ihn mit Ernst von Schuch, der mit seinem Charme alle Orchestermitglieder bezaubert und ihre Liebe besessen hatte. Reiner gewann kein persönliches Verhältnis zu den Kollegen. Seine Gewohnheit, sie mit ihrer Telefonnummer anzusprechen, sicher ein Witz, dokumentiert aber auch die Distanz.“ So kam es 1921 zum Bruch, als Reiner endgültig bewusst wurde, dass seine Bemühungen um die Generalmusikdirektoren-Position, an der unmittelbar nach Schuchs Tod vermutlich jeder erst einmal gescheitert wäre, aussichtslos waren. Das Orchester hatte sich längst auf den Stuttgarter GMD Fritz Busch eingestellt und diesem bereits vor seinem Dresdner Antritt eine ganze Konzertserie angeboten. Reiner hielt Ausschau nach anderen GMD-Positionen in Deutschland – allerdings ohne Erfolg: Der nach Ende des Ersten Weltkrieges aufkommende nationalistische und auch antisemitische Geist bot ihm keinerlei Chance. Im Sommer 1922 nahm er schließlich das Angebot an, die Leitung des Cincinnati Symphony Orchestra in den USA zu übernehmen. Seine Karriere sollte fortan eine ausschließlich amerikanische sein.

Unerbittlicher Orchestererzieher in den USA

In der Neuen Welt konnte Reiner seine Qualitäten als erstrangiger Orchestererzieher schnell entfalten und seine Erfahrungen aus der Arbeit mit einem europäischen Traditionsorchester, ähnlich wie seine Landsleute George Szell, Eugene Ormandy und Antal Dorati, auf die noch relativ junge amerikanische Orchesterlandschaft übertragen. Mit höchstem Anspruch und despotischer Haltung – er war bei den Orchestermusikern gefürchtet – brachte er von 1922 bis 1931 zunächst das Cincinnati Symphony Orchestra in eine erstklassige Position, später stand er für erneute zehn Spielzeiten an der Spitze des Pittsburgh Symphony Orchestra (1938-1948), mit dem er auch erste Aufnahmen realisierte. Dann zog es ihn wieder zur Oper: 1948 wirkte er für sieben Jahre als Principal Conductor der New Yorker Metropolitan Opera, wo er u.a. legendäre Aufführungen der „Salome“ mit Ljuba Welitsch (1949) und die amerikanische Erstaufführung von Strawinskys „The Rake’s Progress“ dirigierte. Auch als Lehrer hinterließ Reiner in den USA nachhaltige Spuren: Von 1931 bis 1941, zu dieser Zeit längst amerikanischer Staatsbürger, unterrichtete er am Curtis Institute in Philadelphia, wo der junge Leonard Bernstein zu seinen Schülern gehörte, der sich immer respektvoll an seinen strengen Lehrer „Dr. Reiner“ erinnerte. 

„Das Orchester in Chicago klang nie besser als unter Fritz Reiner“ (Foto: Sony Music)

Den Gipfel seiner Karriere erreichte Reiner ab 1953 als Music Director des Chicago Symphony Orchestra, das er laut Igor Strawinsky zum „präzisesten und flexibelsten Orchester der Welt“ formen sollte. In Chicago wurde Reiner auch zu einem der führenden Schallplattendirigenten: Insgesamt 122 Werke nahm er mit dem CSO in der zum Studio umfunktionierten Orchestra Hall auf – Einspielungen, die an spiel- und aufnahmetechnischer Brillanz (es handelt sich um die ersten „Living Stereo“-Aufnahmen von RCA Victor) bis heute unübertroffen sind. Strauss‘ „Ein Heldenleben“ und „Also sprach Zarathustra“, Prokofjews „Alexander Newski“, Tschaikowsky- und Brahms-Konzerte mit Jascha Heifetz und Emil Gilels, Rachmaninow mit Arthur Rubinstein, Orchesterwerke seines Freundes Ottorino Respighi und natürlich seines Lehrers Béla Bartók – die Liste ließe sich lange fortsetzen. „Das Orchester in Chicago klang nie besser als unter Fritz Reiner“, erinnert sich der langjährige Soloflötist des CSO, Donald Peck. „Reiner gelang es auf einzigartige Weise, die europäische Klangtradition, die er vor allem in Dresden kennen gelernt hatte, mit einem amerikanischen Sinn für Präzision und Glanz zu verbinden.“

Als „Dirigentendirigent“ wurde Reiner häufig bezeichnet – als Einziger, der selbst bei seinen Kollegen höchsten Respekt genoss. Reiners Schlagtechnik, die er mit kleinsten Bewegungen und mit scharfem, undurchdringlichem Blick umsetzte (das Orchester hing quasi an der Spitze seines langen Taktstocks), wurde weltweit bewundert. Und doch war Reiner alles andere als ein „Stardirigent“: Jeglicher Personenkult war ihm zuwider, es ging ihm stets um die Sache selbst, um höchste Qualität des Musizierens. Dabei schonte er niemanden, am wenigsten sich selbst. 1960 erlitt er einen Herzinfarkt, von dem er sich nur schwer erholte. Als er am 15. November 1963 starb, befand er sich mitten in den Proben für eine Neuproduktion der „Götterdämmerung“ an der New Yorker Met – eines Werkes, das er knapp 50 Jahre zuvor in Dresden zum ersten Mal dirigiert hatte.

Jähzornig vielleicht, humorlos sicher nicht: "Fritz Reiner oder der entlassene Sträfling" (Foto: Genja Jonas, Archiv der Staatsoper)

Nach Dresden kehrte er nicht mehr zurück. In der Historie der Staatskapelle ist sein Name heute weit weniger präsent als der anderer Chefdirigenten und Generalmusikdirektoren, die im Zusammenwirken mit der Kapelle ihre ganze Meisterschaft entfalten konnten. Dies war dem jungen Reiner hier nicht vergönnt: Wahrscheinlich wurde er in Dresden mehr geprägt als dass er selber prägend wirkte. Immerhin aber gelang es ihm, das hohe Niveau des Orchesters in schwierigen Zeiten – nach dem Tode Schuchs und während des Weltkrieges bzw. der anschließenden Umwälzungen – zu halten und das Repertoire durch wichtige Ur- und Erstaufführungen zu erweitern. Davon profitierte nicht zuletzt auch Fritz Busch, der einen „intakten“ Klangkörper vorfand und in eine neue Glanzzeit führen konnte. Die heutige Sächsische Staatskapelle und Christian Thielemann haben dies gewürdigt, als sie ihr Konzert in Chicago im April dieses Jahres dem Andenken Fritz Reiners – zu dessen 50. Todestag und 125. Geburtstag im Jahr 2013 – widmeten.

Reiner selbst war sich der Prägung durch die Dresdner Jahre übrigens durchaus bewusst. Auf einer Postkarte an eine Freundin in Dresden schrieb er 1926, als er bereits in den USA wirkte: „Es war wohltuend, wieder mal aus der Heimat Kunde zu bekommen. Denn Dresden ist und bleibt – trotz allem – meine musikalische Heimat, will sagen Opernheimat.“

Anlässlich des 50. Todestages von Fritz Reiner ist bei Sony Music eine preiswerte CD-Box erschienen, die auf 63 CDs erstmals sämtliche Aufnahmen Reiners mit dem Chicago
Symphony Orchestra präsentiert: 
„Fritz Reiner –
The Complete Chicago Symphony RCA Recordings“
(Sony Music 88883701892)