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Wagner gegen Wagner verteidigen

Und so sind sie hier oben alle, am liebsten würden sie im Alten Dresden leben, dieser fein-barocken Puppenstube und pseudoitalienischen Zuckerbäckerei, sie seufzen »Frauenkirche!« und »Taschenbergpalais!« und »Hach, die Semperoper!«, aber nie »Außentoiletten! Die herrlich cholerabefördernden Sanitärbedingungen« oder »Die Synagoge!« oder »Die befreienden Wohnverhältnisse früher, zehn Mann auf eine Mietskasernenwohnung!«, sie sagen nie »die Nazis«, sondern »die Tiefflieger«, reden vom »Morgenstern der Jugend« und »wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens«, und dann schlug Meno vor Unmut mit der Faust gegen einen Baum. (aus: Uwe Tellkamp, »Der Turm«)

Am moralisch himmelschreienden Zwiespalt zwischen Richard Wagners hehrem Kunstschaffen und seiner dämlichen Weltanschauung kommt eigentlich auch im Jubiläumsjahr kein denkender Mensch vorbei. Der Wagner-Autor und Neu-Dresdner Christian Thielemann hat dem Thema ein ganzes Buchkapitel gewidmet, "Ein sehr deutsches Thema: Das sogenannte Weltanschauliche" heißt es. Thielemann argumentiert, man solle doch bitte den Musiker und den Antisemiten Wagner sauber voneinander trennen; und: "Ein Musiker wird Richard Wagner immer nach seiner Musik beurteilen, nach seinem handwerklichen und künstlerischen Können." In den Noten sei für Antisemitismus schlicht kein Platz: "Einen Quartsextakkord kann ich weder antisemitisch noch philosemitisch, weder faschistisch noch sozialistisch noch kapitalistisch spielen oder dirigieren […] In dem Moment, in dem ich davon überzeugt bin, dass die Partitur, die vor mir liegt, ein Meisterwerk ist, kann ich nicht weltanschaulich damit umgehen." Und auch das Publikum will Thielemann entlastet wissen: wie solle man denn einem C-Dur-Dreiklang irgendwelche politischen Aussagen anhören?

Nehmen die Dresdner den Richard Wagner gegen den Richard Wagner aus Angst vor drohenden Widersprüchen allzu blind in Schutz? (Anton von Werner: "Die Enthüllung des Richard-Wagner-Denkmals (1903)", 1908; Archiv)

Macht es sich Thielemann, der Dirigent, erklärte Wagner-Liebhaber und Bayreuth-Apologet, machen es sich die Dresdner mit ihrer unspezifisch-verklärenden, traditionsheischenden Sicht auf den Komponisten und ihre Stadt – der Stadt schließlich, "in der Wagner Wagner wurde" (Dresden Marketing) – damit ein bisschen zu einfach? Der TU-Professor Walter Schmitz, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literatur und Kulturgeschichte, hatte dieser Frage auf dem jüngsten Dresdner Wagner-Symposion einen seiner stets kurzweiligen Vorträge gewidmet. "Parsifal im Tal der Ahnungslosen" war der Ausflug überschrieben, und setzte sich mit der Bildung des Dresdner Bildungsbürgertums auseinander, mit dem Wissen und dem Wissen-Wollen rund um Wagners, ja, "Rattenfängermusik" (Christian Thielemann), die doch oft "reinste, Klang gewordene Erotik" ist (noch mal Thielemann) und mitnichten nur auf "blödes Pathos" reduziert werden sollte, sozusagen im Rahmen eines "plumpen Überwältigungsdogmas" (Thielemann über Hartmut Zelinskys streitbare Interpretation in seiner Wagner-Dokumentation "Richard Wagner – Ein deutsches Thema").

Schmitz schätzt Zelinsky, dessen wissenschaftliche Karriere in Westdeutschland "mit dem Buch de facto beendet war", insofern, als solche Bruchlinien unserer Wertschätzung von Kulturwissenschaftlern natürlich immer interessant ab- und auszuleuchten sind. "Wie verträgt sich große Kunst mit Werten, die wir nicht vertreten können?", lautete Schmitz' Kernfrage. Die brisante Affäre der letzten Bayreuther Saison erwähnte er: als eine Boulevardzeitung termingerecht vermeldete, dass einer der Premierensänger sich offenbar einst ein Hakenkreuz-Tattoo hatte stechen lassen, wurde der schlicht "eilig entsorgt" – wieder war damit eine Möglichkeit vergeben, die "Erinnerungskultur des heutigen Bayreuth" einmal zu hinterfragen und sich mit den politischen Wertschätzungen der Wagners eingehender zu beschäftigen. Auch im kulturbeflissenen Dresden, meinte Schmitz, werde Richard Wagner allzuoft glattgebügelt; auch und gerade an dem Haus, an dem er bis zur Mairevolution als Kapellmeister angestellt war, der Semperoper. Seine Forderung deshalb: "Wir dürfen auf die Unruhe des Fragens nicht verzichten! Wenn Musiktheater nicht nur Museen sein sollen, müssen wir diese Spannungen aushalten."

Um mit dem in Dresden weniger als anderswo wertgeschätzten Uwe Tellkamp zu fragen: Die Türmer… Wollten sie eine fugendichte Welt?  In der folgenden fesselnden Diskussionsrunde wurde diese Thematik durch den Musikkritiker Gerhard R. Koch weitergesponnen. Der wollte dann "Dresden gegen Dresden verteidigen", führte dafür Paul Hindemiths "Cardillac", die Brücke-Maler oder den Hellerauer Tanz-Erneuerer Émile Jaques-Dalcroze ins Feld – und stimmte am Ende doch zu: "Allzuoft wird diese künstlerische Schubkraft in dieser Stadt weggedrückt zugunsten einer Traditionsmeierei." Wer wisse zum Beispiel, dass mit Mark Andre und Manos Tsangaris zwei herausragende zeitgenössische Komponisten nebeneinander an der Dresdner Musikhochschule lehren? Sei das nicht auch in gewissem Sinn eine Farbe des "Dresdner Klangs", neben dieser weltbekannten, der Staatskapelle ohrenscheinlich eigenen (und auf der Tagung ebenfalls thematisierten) "Obertonformation der Holzbläser"? "Dresden sei doch, so Koch mit Nachdruck, "sehr viel weiter gefächert, als es die Perspektivenbegradigung im Nachhinein suggeriert!"

Schwer schienen die Dresdner Wagnerianer an dieser Kritik zu schlucken. Leider waren – wie so oft – nur die älteren und ältesten Jahrgänge im Publikum vertreten; von Studenten zumindest an diesem Freitagabend keine Spur, aber das wäre eine andere und vielleicht ebenso grundlegend vernachlässigte Dresdner Frage. Neben belustigtem Auflachen wurde jedenfalls eben auch hie und da herzhaft über Schmitz und Koch geknurrt und gemurrt. Die Besucher ließen sich aber am Ende von Walter Schmitz überzeugen: "Es gibt ihn nicht, den kontextfreien Kunstgenuss! Die Frage ist doch nicht, was können Sie hören, sondern: was wollen Sie wissen?" Denn – so Schmitz – "wo ist sonst der Unterschied vom Kapellkonzert zur Volksmusiksendung?"

Eine Textfassung des Artikels erscheint demnächst im "Dresdner Universitätsjournal".