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Stille, die keine ist

Wer einmal auf Matratzen liegend "Wasser-Klang-Skulpturen" hören möchte oder erleben mag, wie Fahrrad, Staubsauger, Gläser, Würfel zu Instrumenten werden… Wen interessiert, wie ein Musikstück für 10 Radios klingt, ein präpariertes Klavier oder Stille, die eigentlich keine ist…
Wer selbst eine klingende Installation aus 10 Plattenspielern und 500 Schallplatten mitgestalten möchte …

… mit diesen Worten hatte die junge Pianistin Julia Aldinger als musikalische Leiterin zum Auftaktkonzert des Tonlagenfestivals eingeladen. Es war ein Happening, bei dem es nicht nur um die Aufführenden ging, sondern um die Musik. Um die Gedanken des Komponisten, und ganz besonders auch um jeden einzelnen Zuhörer, der frei zwischen den verschiedenen Aufführungsräumen pendeln konnte. Nach monatelanger Arbeit ist es Julia Aldinger und den weiteren Beteiligten gelungen, ein spannendes Konzert in verschiedenen Räumen aufzuführen. Unterstützt wurde die Pianistin von einer 10. Klasse des Franziskaneums Meißen, Schülern des Vitzthum-Gymnasiums, der Lehrerin Dörte Tanneberg und der weiteren musikalischen Leiterin Ulrike Gärtner mit einem Konzertbeitrag, der sich mit der Handschrift von John Cage und seinem kompositorisch-musikalischen Freiheitsgedanken auseinandersetzt. Vielleicht deshalb wurde das Konzert mit „Open Cage“ betitelt. 

Die Käfigtür war offen, der Auftakt machte Lust auf mehr. Zum aktuellen Anlass des 100. Geburtstags von John Cage wurde ein regelrechter musikalischer Marathon im Namen des Meisters in Hellerau aufgeführt. Übernachtungsmöglichkeiten hat es vor Ort gegeben, und Jung und Alt waren an der Quelle des Geschehens dabei, um zu den verschiedensten Tages- und Nachtzeiten Kompositionen und Variationen von John Cage zu hören. Das Konzert wurde zum Happening, das Festival zu einem Erlebnis. Es war besonders spannend zu beobachten, wie sich Musikliebhaber aller Generationen mit der Musik von Cage auseinandersetzten. Die inspirierendste Erfahrung für viele Festivalbesucher war das Pilzesammeln mit Jan Vogler. Wie es John Cage selbst gern tat, ist man einfach in den Wald gestiefelt, um nach leckeren Waldfrüchten zu suchen. Was man aber nicht alle Tage erlebt: Jan Vogler brachte am Cello zwischen Baum und Strauch Werke des amerikanischen Komponisten dar. Schade, dass der vor zwanzig Jahren verstorbene Komponist nicht Zeuge dieser Würdigung seiner Musik werden konnte…

John Cage und Hellerau

Der 100. Geburtstag von Cage war ein guter Grund, den Komponisten zum Schwerpunkt des Festivals zu machen, der beste ist mit Sicherheit die Originalität seiner Werke. Entsprechend passt die Musik von Cage hervorragend in die Räumlichkeiten des Festspielhauses – als Zentrum der 1909 unter dem Unternehmer Karl Schmidt entstandenen Gartenstadt exorbierte das imposante Gebäude bald symbolisch den Gedanken der auf den Lebensformgedanken basierenden, damals neuen Siedlungsform. Heute gilt es weltweit als Kunstort der Moderne. Und dies nicht nur architektonisch, sondern auch was den Austausch künstlerischer Gedanken und Projektideen betrifft.

Gerade das Konzert mit den Schülern war ein wunderbarer Festivalauftaktes, weil Cage lebenslang fest davon überzeugt war, dass jeder Gegenstand eine Seele hat. Und davon haben sich die Besucher des Eröffnungskonzertes selbst überzeugen können. So spüren Kinder in ihrer unvoreingenommenen Weise selbst aus Partituren oft tiefere Zusammenhänge auf, als ein verkopft arbeitender, professionell eingespielter Musiker es je vermögen würde. Und jedes Festival lebt von dem besonderen Etwas, der Seele. Gerade in der Neuen Musik suchen die Neuankömmlinge manchmal krampfhaft das Gefühl, den Atem, das Leben. Dabei ist dies einfacher zu spüren, als man denkt. Besonders mit den Möglichkeiten und Regelkatalogen, die John Cage fern der vorherigen Musiktraditionen entwickelt hat, lässt sich die musik-philosophische Auffassung der Beseelung durch Klänge und Geräusche durch eine ganz eigene kompositorischen Sprache beleuchten und erfahren.

Nehmen wir die 2000 im ECM New Series erschienene CD The Seasons als Beispiel, die unter dem Dirigenten Dennis Russell Davies vom American Composers Orchestra aufgenommen wurde. Bereits das erste Stück „Seventy-Four“ fesselt durch einen ausgewogenen Klang, der den Fluss der Musik, den Strom eines atmenden Organismus wachsen und vergehen lässt. Eine Lebensenergie kristallisiert sich heraus, die ohne Genrezwang ihrer Wege fließt, und dabei wie im wahren Leben selbst stets Überraschungen bereithält. Diesen entfesselnden Klang nehmen auch Neuankömmlinge im Bereich der Neuen Musik tief in sich auf, so nah ist sie dem natürlichen Impulses des Atmens. 

„Seventy-Four“ ist ein fantastisches Beispiel dafür, dass der Freiheitsgedanke im Werk von Cage eine große Rolle spielt. Das Stück hat er im März 1992 komponiert, 5 Monate vor seinem Tod. Die Musik hat der Komponist den Interpreten auf der CD gewidmet, mit denen er übrigens auch vorher bereits eng zusammengearbeitet hat, und sie mit einem interessanten Merkmal konzipiert: jeder Instrumentalist hat ein Notenblatt mit Sequenzen einzelner Noten, die in einem flexiblem Tempo gespielt werden sollen. Dies ermöglicht dem Interpreten, Anfang und Ende der Töne selbst zu wählen, und somit die Gesamtwirkung des Stückes zu beeinflussen. Dem entspannten Hörer fallen beim Lauschen der CD nicht primär die einzelnen Stücke auf. Aus „The Seasons“ tauchen mit frischem und exzellent balanciertem Orchesterton das „Concerto for Prepared Piano and Chamber Orchestra“, eine zweite Version von „Seventy-Four“, sowie die „Suite for Toy Piano“; mit Margaret Leng Tan an den Klavieren.

Die im selben Verlag frisch erschienene CD As it Is ist da ganz anders. Ein Statement folgt dem nächsten und nimmt den Zuhörer mit auf verschiedene Klangstationen quer durch das Jahr, von Ort zu Ort, von Zustand zu Zustand. „So wie es ist“ – und nicht anders. Stellt man sich beim Hören unweigerlich die Frage: Wer sind wir eigentlich? Wie und wo, und warum sind die Dinge wie sie sind? In collagenartiger Anordnung folgen wir diesem Gedanken und den Impressionen des Komponisten, der Texte von im 20. Jahrhundert einflußreichen Schriftstellern verwendet hat. Der irische Avantgarde-Künstler James Joyce ist mit „The Wonderful Widow of Eighteen Springs“ auf der CD verewigt. Drei Songs sind der amerikanischen Schriftstellerin Gertrude Stein und ihren vertonten Texten gewidmet, und desweiteren hat John Cage mehrere Texte vom Amerikaner e.e.cummings in Musik gesetzt. So hören wir ein Liebeslied an den kleinen Weihnachtsbaum, der den Wald verlassen mußte, um jetzt mit den Menschen die Weihnachtsträume zu teilen. Heraussticht auch das plötzliche und gruselige Nachtgepolter mit Schreien deutsch-amerikanischer Wortspielen, nicht zuletzt wegen den markerschütternden Schüssen. Ebenso inspirierend: ein hektischer Gerade-So-Frühling. „Dann, wenn die Welt schlammig-lecker den kleinen lahmen Ballonmann erwartet.“ Es wird auch diabolisch: „Dann, wenn der tanzende Teufel sich zeigt, … „ werden wir Zeuge eines amüsierenden Wortspieles zwischen naiven, schnell gefassten Gedanken, und tiefen Lebensweisheiten, die sich aneinander anlehnende auf spielerische Art und Weise in der Musik widerspiegeln. Zwischen hämmernden, glockenläutenden, spitzen und vernebelten Klanggeweben von Alexei Lubimov auf dem Klavier hören wir die Sängerin Natalia Pscheniktschnikova mit vielfältigen Interpretationen der Kompositionen von John Cage. Kaum zu glauben, dass die Klangvielfalt auf dieser CD von zwei Musikern allein kreiert wurde!

Modernes mit Seele? Happening oder Konzert? Provokantes oder Inspirierendes? Message oder Irrsinn? Über die Kunst von John Cage gibt es die unterschiedlichsten Auffassungen. Einerseits kursiert die Behauptung, daß sich seine Musik wie Sand zwischen den Zähnen anfühlt (was auch immer das für den Einzelnen bedeuten mag). Andererseits wird er von manchen zeitgenössischen Komponisten als der einzige wahre Neuerungsschaffende angebetet. Was ihn jedoch für die Belange der internationalen Musikgeschichte unsterblich macht, ist seine Bedeutung als Schlüsselfigur, die einige der weltweit einflussreichsten Kompositionen geschrieben hat, mit denen neue Klangräume entdeckbar wurden. Genau diese Konstellation ist die beste Voraussetzung, das diesjährige Tonlagenfestival in besonderer Erinnerung zu halten. Vielleicht hat es den Anstoß gegeben, der Musik von Cage mit neuen Ohren zu lauschen.