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„Stilistische Freiheit im Bewusstsein der Tradition“

Roberto Diaz, vor kurzem konnten wir bereits das Philadelphia Orchestra in Dresden begrüßen; am 15. Mai kommt das Curtis Symphony Orchestra zum Eröffnungskonzert der Musikfestspiele in die Stadt. Wie kam es zu der Einladung?

Vor ein paar Jahren trat ich gemeinsam mit Jan Vogler in Dresden auf; damals als Gast des Moritzburg Festivals. Jan überlegte damals, ob es möglich wäre, irgendwann das gesamte Sinfonieorchester von Curtis hierher zu holen. Seine Idee war, eine "Residency" zu schaffen, und gemeinsam bastelten wir das dann zusammen: das Eröffnungskonzert, eine Kammermusiknacht und künstlerische Begegnungen mit Dresdner Schülern. Nach seinem Dresden-Aufenthalt wird eine Kammermusikfraktion des Orchesters durch Europa touren: Berlin, Rom, Spanien… Aber Dresden ist der Auftakt, und darauf freuen wir uns sehr.

"Let's dance" ist ein Projekt der Musikfestspiele, bei dem Schüler unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft zusammenkommen und zu Leonard Bernsteins "Konzert für Orchester" tanzen werden. Und die Musiker von Curtis spielen dazu…

Roberto Díaz studierte bis 1984 am Curtis Institute und ist hier seit 2000 Professor für Viola (Fotos: J. Henry Fair)

Das Projekt mit "Rhythm is it"-Choreograph Roston Maldoom wird auch für die Musiker ein spannendes sein. Sie werden übrigens auch mit Dresdner Musikstudenten zusammentreffen, es wird Meisterklassen und ähnliches geben…

Wie würden Sie den Klang des Orchesters beschreiben, was ist besonders an ihm?

Ich selbst habe ja am Curtis Institut studiert, später unter Charles Dutoit, Frühbeck de Burgos und Leonard Bernstein Bratsche gespielt. Das Curtis Symphony Orchestra kann sehr schnell auf die Wünsche des jeweiligen Dirigenten eingehen und sich seinen Klangvorstellungen anpassen. Der Grund ist: ein Viertel des Orchesters wechselt jedes Jahr, ständig kommen neue Mitspieler hinzu. Einige der Kids haben überhaupt keine Orchestererfahrung, aber ihre technischen Fähigkeiten sind phänomenal. Wenn Simon Rattle oder Christoph Eschenbach hier dirigieren, sind sie von den schieren Fähigkeiten des Orchesters stets wie weggefegt. Die Geigen spielen bis zum letzten Pult selbstbewusst jede einzelne Note! Aber einen "traditionellen" Klang hat das Orchester aus den genannten Gründen nicht entwickelt.

Dem Philadelphia Orchestra dagegen eilt der Ruf voraus, einen ganz besonderen, sehr dichten Streicherklang zu haben.

Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als Wolfgang Sawallisch Chefdirigent war. Er sagte manchmal nur: "Hier brauche ich diesen Philadelphia Klang!" Und er bekam ihn. Diesen unglaublich dicken Streicherklang, das ganze Orchester dunkelte irgendwie ein… Interessant übrigens ist: als das Orchester 2001 in die neue Konzerthalle umzog, verlor sich davon etwas, denn die neue Halle machte es nicht mehr nötig, auf diese Art zu spielen.

"Vererben" die Orchestermitglieder, die am Curtis Institute lehren, ihre Klangvorstellungen ihren Studenten?

Auf jeden Fall! Wenn ich beispielsweise einen Oboisten im Konzert höre, weiß ich sofort: ah, der studiert bei dem und dem Kollegen. Das mag ich, und versuche auch, meinen eigenen Schülern viel davon zu vermitteln. Diesen dicken, saftigen Philadelphia-Klang kann man hoffentlich auch meinen Bratschenstudenten später anhören…

Heute müssen Musikstudenten eigentlich schon bei der ersten Aufnahmeprüfung technisch topfit sein. Am renommierten Curtis Institute sicherlich um so mehr. Womit verbringen sie dann eigentlich ihre Studienzeit?

Ha, gute Frage. Sie haben recht: um bei uns angenommen zu werden, müssen Sie technisch bereits auf einem sehr hohen Level sein. Die Konkurrenz ist ja enorm. Und dann? Eigentlich bringen wir unseren Studenten sehr viel über Musik an sich bei. Wir verbringen viel Zeit damit, Musik zu lesen und zu verstehen. Was steckt zwischen den Noten, die da auf dem Papier stehen? Viele unserer Lehrer genießen diese Art Unterricht. Man könnte diese Art Ausbildung das "Curtis Phänomen" nennen. Sehen Sie mal, wo liegen die Unterschiede zwischen einer Brahms- und einer Schumann-Sonate? Auf dem Papier sehen sie ziemlich gleich aus. Es ist das Klangkonzept, das unterschiedlich ist.

Wer es einmal ans renommierte Curtis Institut geschafft hat, soll eine möglichst ungestörte Ausbildung durchlaufen. Studiengebühren gibt es nicht – und das reine Musikstudium ergänzen karrierevorbereitende Kurse und Tutorings. Und das gemeinsame Musizieren im Orchester oder Kammerensemble, an deutschen Musikhochschulen eher ungeliebt und als "Downtime" begriffen, in der man nicht üben kann, ist integraler Bestandteil der Sache! (Foto: Curtis Institute)

Haben interpretatorische Außenseiter, die sich der Musik von einer gänzlich ungewöhnlichen Seite nähern, neben den "mehrheitsfähigen" Klangvorstellungen, die erfahrungsgemäß vor allem asiatische Studenten mitbringen, überhaupt eine Chance?

Hm. Nun, ich höre mir ja fast alle Bewerber mit an; bei den finalen Auswahlrunden sitze ich stets mit dabei, bei den Streichern ja sowieso. Ich bin oft ganz perplex von den Stilen, die die Bewerber anbieten, und ich glaube meine Kollegen würden mit mir übereinstimmen: Die Ausbildung muss auf den persönlichen Klang ausgerichtet sein. Wir dürfen stolz darauf sein, wenn unsere Absolventen einen sehr individualistischen Klang entwickeln.

Aber widerspricht das nicht ein bisschen dem Konzept, dass Lehrer ihren Schülern diesen traditionellen Philadelphia-Klang mitgeben?

Nicht unbedingt. Was wir ausbilden, sind Klangvorstellungen, aber auch individuelle Ideen von Phrasierung, von Stil. Die vier, fünf Musiker einer Klasse werden Bach sicher nicht auf dieselbe Weise spielen. Der eine wirft sich vielleicht mehr auf das, was wir "historisch informiert" nennen; der andere überlegt sich, wie Bach in unserer heutigen Welt klingen müsste. Beide studieren bei Pamela Frank, und sie wird beide ermutigen, in eine bestimmte Richtung fortzuschreiten. Man könnte es stilistische Freiheit im Bewusstsein einer bestimmten Tradition nennen.

Ganz praktisch: wie finden eigentlich Lehrer und Schüler zusammen? Kann ich Wünsche äußern, bei wem ich studieren möchte, oder suchen sich die Kollegen ihre Schüler aus?

Wir versuchen da gute Mittelwege zu finden. Wenn sich Studenten auf einen Platz bei uns bewerben, fragen wir uns zuerst: gehört dieser Student ans Curtis Institute? Wenn ja, fragen wir vielleicht einen Kollegen: würdest du diesen Studenten unterrichten? Die Zahlen, wie viele Geiger wir in einem Jahr aufnehmen, steht ja relativ fest; wir sagen also etwa den sechs besten Bewerbern, dass sie es geschafft haben, und dann sortiert man sich ein bisschen hin und her. Ganz spannend ist die Entwicklung übrigens in den letzten Jahren: wir gehen da einen Schritt weiter und sagen, man hat nicht nur den einen Lehrer. Wenn du ans Curtis kommst, wirst du Gelegenheit haben, bei verschiedenen Kollegen Unterricht zu haben.

Das ist ja interessant. So eine Art hausinterne Meisterklassen?

Das könnte man so nennen, ja. Ein Beispiel: mein spielerischer Hintergrund ist das Orchesterspiel, ich war beim Boston Symphony, auch hier im Philadelphia. Als Solist spiele ich Penderecki, Walton, Barton. Wenn aber einer meiner Schüler Streichquartett spielen will, oder sich beim Marlboro Festival bewirbt, werde ich ihm sagen: nimm doch die nächsten drei Stunden bei Michael Tree, dem Bratscher des Guarneri Quartetts, oder bei Misha Amory. Und vor Probespielen nehmen sie vielleicht ein paar Tips von Joseph Silverstein mit. Das funktioniert prima!

"Mr. Díaz, wie lautet Ihr Erfolgsgeheimnis im Einwerben von Mäzenen und Sponsoren?" "Ganz einfach – wenn sie nicht zahlen, drohe ich damit, zur Bratsche zu greifen…"

Unterstützt Curtis seine Schüler eigentlich auch bei der Suche nach einem geeigneten Instrument?

Wir sind in der glücklichen Situation, dass unsere Alumni dem Institut ausgezeichnete Instrumente vermacht haben. Geigen, Bratschen und Celli von Guadagnini, Guarneri und Amati sind darunter. Für Vorspiele, Konzerte und so weiter können die Studenten diese Instrumente natürlich verwenden, und auch im Curtis Symphony Orchestra werden sie da sicher einige entdecken.

Ein weiterer Grund, sich auf die erwähnten Konzerte zu freuen – ich werde da mal genau hinhören!

Tun Sie das! Ich hoffe, die Dresdner mögen, was sie hören. Auf die Ergebnisse unserer kleinen "Residency" bin ich mindestens so gespannt wie Sie.

Mr. Díaz, vielen Dank für das Gespräch.