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Hans Neuenfels schreibt „Das Bastardbuch“

Abbildung: Verlag

Dem Wort Bastard hängt bis heute nicht der Hauch eines Kompliments an. Und nun ist ein ganzes Buch so überschrieben, „Das Bastardbuch“, nicht als Beschimpfung, sondern – als Autobiografie! Das gibt zu denken. Warum wählt ein erfolgreicher Künstler wie Regisseur Hans Neuenfels für den Rückblick auf Privat- und Berufsleben einen so harschen Titel? Die ihm in die Wiege gelegte Fremdheit dürfte der Schlüssel zu einer Antwort sein. Kleinbürgerliches Elternhaus, der bundesdeutsche Mief der frühen Nachkriegszeit – und darin ein junger Mann, der nichts von Anpassung hält, nichts von überkommener Autorität, der das bigotte Christentum ganz heftig ablehnt und sich nach nichts so sehr sehnt wie nach der Befreiung in und durch Kunst.

Bastarde sind Außenseiter, galten mitunter als „vogelfrei“, waren und sind oft sehr einsam. Wenn ihnen das zu sehr zum Problem wird, suchen sie Ihresgleichen und treten im Rudel auf. Ungefähr so begründet Hans Neuenfels sein Herangehen an diese „Autobiografischen Stationen“, wie er sein „Bastardbuch“ im Untertitel nennt. Er nimmt seine Leser mit zurück in die Kindheit der 1950er Jahre, nach Krefeld, er stimmt darauf ein, wie er mit Hilfe von Kunst und Literatur aus der Enge des Familiendaseins floh, und er macht das Aufatmen nachvollziehbar, das er in Städten wie Wien (zum Studieren) oder Paris (als Assistent von Max Ernst) erlebt haben mag.

Frühe Kernsätze wie „Lieber Humanist als Christ“ legen die Basis für eine anhaltende Entzweiung mit der Familie – und irgendwie auch schon für das spätere Regiehandwerk, dass allzu oft zu Aufsehen erregenden Entzweiungen mit Provinzpolitikern und/oder der Presse geführt hat.

Neuenfels, der zunächst in Trier und Heidelberg inszenierte, erinnert die von ihm provozierten Kleinstadt-Skandale, die Reibereien mit Stücken von Bertolt Brecht und Peter Weiss, aber auch von August Strindberg und Henrik Ibsen. Was trieb ihn damals an, fragt er, und beantwortet dies mit der Suche nach dem Schönen und Guten. Diese Sehnsucht, eine in der Tat unstillbare Sehnsucht, die zieht sich durch sein gesamtes Schaffenswerk.

Zu den Konstanten in seinem Leben gehören die Ehefrau und bald auch der gemeinsame Sohn – Elisabeth Trissenaar ist eine begnadete Schauspielerin und Partnerin, der 1966 in Bern geborene Benedict ist heute Kameramann. Was hier nach ganz heiler Welt klingen könnte, ist nie frei von heftiger Arbeit gewesen, auch: von Beziehungsarbeit.

Wenn Neuenfels darüber berichtet, dann nimmt er kein Blatt vor den Mund, gibt auch Höhen und Abgründe in der Zusammenarbeit mit Künstlerkollegen, mit der Presse und mit dem Publikum preis. Natürlich hat er immer auch Sehnsucht nach Anerkennung und nach Erfolg – aber nie will er dies mit Kompromissen erkaufen. Auf einen Lieblingssatz wie: „Die Wirklichkeit ist nur auf der Durchreise zu ertragen, wobei ich mit Wirklichkeit das Unverrückbare, ‚das, was ist‘ meine, das nie Verwandelbare.“ setzt er gleich noch einen drauf: „Es ist eine Furcht, die nichts mit Angst vor dem Leben zu tun hat …“

Man spürt, hier hat einer ganz dünnhäutig und ehrlich berichtet. Manchmal von „Knochenarbeit der Seelen“, manchmal in Reflexionen und Selbstgesprächen. Da fällt sich Hans Neuenfels auch mal selber ins Wort, reflektiert über das Schreiben an sich – und tischt die nächsten Anekdoten, Ereignisse oder auch Zweifel auf.

All das zeigt den „Berserker des Regietheaters“ als unangepassten Aufklärer, der Seite für Seite aus dem Theaterleben des vergangenen halben Jahrhunderts berichtet. Die großen Erfolge sind ebenso dargestellt wie heftige Auseinandersetzungen und Missverständnisse, erinnert sei nur an Mozarts „Idomeneo“ an der Deutschen Oper Berlin, der bekanntlich aus falsch verstandener Sorge um religiöse Befindlichkeiten vorübergehend abgesetzt wurde. „Du kannst das Leben nicht inszenieren, nur das Kunstwerk, das ein Dichter oder Komponist ihm abgerungen hat“, resümiert Neuenfels. Wie sehr ihn bei dieser Arbeit Alkohol und Drogen begleitet haben, auch das spart er nicht aus und will manchmal Abbitte leisten. Der sicherlich unvergessene Vorwurf seines Sohnes: „Immer nur Theater!“ dürfte ihn darin bestärkt haben. Ganz gewiss auch die erwähnte Beziehungsarbeit.

Mit seiner Biografie ist ihm eine Offenbarung gelungen, die zugleich ein gutes Stück heutiger Kulturgeschichte abbildet. Er könnte sich „Hans im Glück“ nennen lassen, das weiß er – und erwidert auch darauf: „Das Glück ist immer schon gewesen!“

Hans Neuenfels: „Das Bastardbuch“ – Autobiografische Stationen. Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann. 512 Seiten, 24,99 Euro; ISBN 978-3-570-58028-8