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„Sein Dirigat wirkte als ganzheitliche Willensübertragung…“

Christian Kluttig als junger Kapellmeister (Foto: Barbara Stroff)

Herr Prof. Kluttig, als Sanderling 1964 in Dresden Dirigent der Staatskapelle wurde, standen Sie mitten im Studium bei Rudolf Neuhaus…

Einer meiner Kommilitonen hatte seine erste Probe mit der Zweiten Beethoven besucht und berichtete Außerordentliches. Die Staatskapelle suchte für die Chefposition aus naheliegenden Gründen immer nach wirklich bedeutenden Dirigenten, schließlich hatten Keilberth und Kempe das Orchester geleitet. In den fünfziger Jahren folgten Konwitschny und Matacic, auch begann das Plattenstudio Lukaskirche mit internationalen Gästen immer mehr an Bedeutung zu gewinnen.

Eine cheflose Periode endete 1960 mit dem Engagement Otmar Suitners, der aus Ludwigshafen kam – eine gute Lösung, fast wurde es ein Liebesverhältnis! Und auch wir Studenten – nicht selbstverständlich – waren begeistert. Doch als Suitner scheinbar unvermittelt nach Berlin wechselte, war die Enttäuschung der Kapelle riesengroß, und bald begann die leidenschaftliche Suche nach einer neuen Lösung.

Bis 1960 war der Dirigent Kurt Sanderling wohl eher nur den Kunden des Plattengeschäfts im „Internationalen Buch“ bekannt – mich hatte seine Aufnahme der Zweiten von Beethoven mit den Leningradern ganz besonders durch Stringenz und Präzision gefesselt. Seit 1960 war er Chef des Berliner Sinfonieorchesters geworden, die Staatskapelle aber kannte ihn immerhin von Plattenaufnahmen. Arthur Tröber, der verdienstvolle Orchesterdirektor der Staatskapelle war es, der an Sanderling herantrat und seine Zusage erhielt, wobei er weiter Chef des BSO blieb. Wie gut, dass die Kapelle ihn nicht als ‚Sowjet-Import’ betrachtete, sondern die Gründlichkeit seiner Arbeit schätzte.

Sicher, man arrangierte sich… (Foto: Bundesarchiv, Rainer Mittelstädt, 1987)

Das Foto seiner Biografie auf Wikipedia stammt aus dem Deutschen Bundesarchiv und zeigt Sanderling bei einer freundlichen Verbeugung vor Erich Honecker. Ist das ein Bild, das ihm gerecht wird?

Ganz und gar nicht. Zuerst einmal: er war vom stellvertretenden Kulturminister Hans Pischner, dem späteren Intendanten der Linden-Oper, 1960 nach Berlin geholt worden. Die DDR wollte damals ein den Berliner Philharmonikern möglichst ebenbürtiges Orchester haben. Und dazu brauchte man einen guten und starken Orchester-Erzieher. Für Kurt Sanderling aber bedeutete der Wechsel nach Berlin eine große Chance – er wurde künstlerischer Leiter des Berliner Sinfonieorchesters und konnte musikalisch und konzeptionell seine eigenen Vorstellungen verwirklichen. Sicher, er arrangierte sich mit dem Staat, so wie es alle Dirigenten damals taten. Vergessen wir aber auch nicht, dass er 1936 aus Berlin fliehen musste. Da wird dieses Foto seinem „Jahrhundertleben“ in keiner Weise gerecht.

Ein sorgfältiger Orchestererzieher also…

Musiker der Staatskapelle können heute noch dankbar erzählen: Sanderling brachte eigenes und gründlich eingerichtetes Orchestermaterial mit. Keinerlei Unklarheiten über die Zielsetzung der Interpretation hemmten die Probenarbeit, denn die Einrichtung stand in völliger Übereinstimmung mit der Gestik seines Dirigierens. Von Dirigenten früherer Generationen, Weingartner, Erich Kleiber und vielen anderen ist dies ebenso bekannt, doch heute ist das in solcher Konsequenz kaum noch üblich.

Näher vertraut wurde ich mit solcher Arbeitsweise durch Arvid Jansons, der nach dem Studium mein wichtigster Lehrer geworden war. Seit den sechziger Jahren war er – wie vor ihm Sanderling – Dirigent der Leningrader Philharmonie, wobei Mrawinski immer uneingeschränkt Chef blieb. Ich konnte mehrfach für längere Zeit nach Leningrad reisen, ging in der Philharmonie ein und aus und durfte Partituren und Orchestermateriale im Archiv studieren. Dies war für meine ersten Konzerte, die ich als junger Kapellmeister dann in Karl-Marx-Stadt dirigierte, eine wichtige Anregung.

Sanderling berichtet in einem Interview sehr anschaulich darüber, in welch produktiver Weise beide Dirigenten miteinander arbeiteten, nachdem die Leningrader Philharmonie in den Kriegsjahren nach Nowosibirsk ausquartiert worden war.

Sie haben die Zeit genutzt, um am „Instrument Orchester“ zu lernen. Und als in der Zeit neuer Stalinscher Säuberungsaktionen der Name Sanderling wegen seines deutschen Klanges auf eine schwarze Liste gekommen war, hat Mrawinski sich mit beispielhaftem Engagement für seinen Kollegen – der ja auch sein Konkurrent war – eingesetzt.

Sie erwähnten am Anfang die Aufnahme der Zweiten Beethoven…

Mit der trat er ja 1964 bei der Staatskapelle an. Die Sinfonie gehört nicht zu den auftrumpfenden Erfolgsstücken, die sonst so häufig den Beginn einer neuen „Chef-Ära“ einläuten. Umso mehr ist es ein Werk, das höchste Orchesterkultur fordert und fördert, das war es, was Sanderling anstrebte und wo er seine Verpflichtung zur Pflege der Orchesterkultur sah.

Sanderlings Dirigat: "schwingend, weich, ohne Taktstock" (Foto mit der Staatskapelle Dresden: Archiv)

Sein Dirigiergestus war insgesamt schwingend und weich, dazu ohne Taktstock. Man war schlecht beraten, nur auf die Hände zu schauen, sein Dirigieren wirkte eher als eine „ganzheitliche Willensübertragung“. Ich kann nicht mehr genau sagen, ob er selbst den Wunsch hatte, oder ob man ihm von anderer Seite nahelegte, auch Oper zu dirigieren. Aber sein Dirigat von Puccinis "Turandot" zeigte, dass die Oper nicht seine Welt war. Und er war ein viel zu nobler und zu ehrlicher Mensch, als dass er das verdeckt hätte. Er bekannte sich dazu – und konzentrierte sich wieder ganz auf das Konzertrepertoire.

Seine Gestik erzeugte namentlich in den Streichern sehr schönen Klang. Auch David Oistrach kam in diesen Jahren mehrfach als Dirigent, und beider Dirigierweise war in Gestik und Wirkung ähnlich.

Eigentlich lassen sich Orchester ja nicht gern alles bis ins letzte Detail zeigen und vorschreiben – namentlich die Kapelle!

Sanderlings Detailarbeit ist legendär, aber sie war niemals kleinlich und immer auf das Werk als Ganzes gerichtet. Und dank dieser Detailarbeit konnten Werke auf das Programm gesetzt und zum Erfolg geführt werden, die damals allenfalls am Rand des Repertoires lagen. Schostakowitschs Achte etwa, die nach dem Konzert in Dresden in Salzburg vorgestellt wurde. Ich glaube mich zu erinnern, dass die österreichische Presse schrieb: „Karajan fiel fast aus der Loge“! Karajan hat dann bald die Zehnte Sinfonie in sein Repertoire aufgenommen…

Mahlers Vierte nahm Sanderling als Hauptwerk auf eine Reise durch Westeuropa mit, und das zu einer Zeit, als die Mahler- Renaissance noch lange nicht bei uns angekommen war. Die Kapelle wird das Werk wohl zehn Mal hintereinander gespielt haben und dürfte wenig begeistert gewesen sein. Doch wir konnten uns in einem unvergesslichen Konzert von Sanderlings Interpretation, die Durchsichtigkeit und Wärme vereinte, gefangen nehmen lassen.

War er eigentlich ein humorvoller Mensch?

In Erinnerung wird mir bleiben, was mir Peter Gülke einmal erzählte. Sanderling sprach über sein Verhältnis zu verschiedenen DDR-Dirigenten: "Suitner hat mich irritiert, weil er immer meiner Meinung war. Reuter hat mich irritiert, weil er immer anderer Meinung war. Und F. hat mich irritiert, weil man mit ihm kein vernünftiges Wort wechseln konnte."

Was haben Sie künstlerisch von Sanderling mitgenommen?

Christian Kluttig im Konzert, 2010 (Foto: privat)

Ich habe ihn mehrmals aufgesucht, um mich vor meinen Konzerten interpretatorisch und aufführungspraktisch beraten zu lassen. Wir sprachen über die Zweite Beethoven, die Fünfte Mahler und die Sechste Tschaikowski. Sein Beethoven-Dirigat kannte ich ja, doch bestimmte Details wollte ich genauer erfahren. Ich erinnerte mich an seine verbale Interpretation des Beginns des letzten Satzes: der Beginn ein Sektkorken – und dann die aufsteigenden Perlen! Viel wichtiger als dieses Bonmot wurde mir aber sein Hinweis auf das Sforzato im ersten Takt, und dass dieses sf natürlich nur im Abstrich auszuführen ist.

Bei der Sechsten Tschaikowski ist mir besonders ein Kommentar unvergesslich: "Jeder der Sätze endet mit einer absteigenden Tonleiter. Das ist der Sieg der Kräfte des Untergangs." Auch im dritten Satz, in dem das Individuum wie von einer eisernen Walze überrollt wird. Solch bilderreiche Sprache kann in einem aufgeschlossenen Orchester Wunder bewirken. Bestes Beispiel ist eine Filmaufzeichnung von Sanderlings Probe der Fünften von Schostakowitsch beim Rundfunk in Kopenhagen.

Am 9. Oktober ist ein Gedenkkonzert für Kurt Sanderling geplant; zwei seiner drei Söhne werden dirigieren. Wissen Sie, warum Stefan, der eine Zeit lang Ihr Assistent war, nicht dabei sein wird?

Er wird es als schmerzlich empfinden, aber soweit ich weiß, hat er in Japan Termine zu dieser Zeit. Ich finde es, nebenbei bemerkt, schade, dass in manchen Medien nur von den "beiden Dirigentensöhnen" Thomas und Michael die Rede ist. Alle drei Söhne sind außerordentliche und eigenständige Musikerpersönlichkeiten.

Wie werden Sie Kurt Sanderling im Gedächtnis behalten?

Im Frühjahr dieses Jahres hatte ich noch ein ausführliches Gespräch mit ihm. Man merkte ihm seine körperliche Schwäche an, aber sobald die Rede auf Musik kam, war er geistig hellwach und oft auch humorvoll. Es wird mir unvergesslich bleiben, wie er mich fragte, ob ich den Mahler-Dirigenten Oskar Fried wohl kenne und ich sagen konnte, den Namen und seine Biographie zu kennen, er aber mit ihm persönlich bekannt war. Wir sprachen auch über den Brahms – Dirigenten Fritz Steinbach und diskutierten über dessen aufführungspraktische Aufzeichnungen. Die Aufnahmen der Brahms-Sinfonien stellen für mich übrigens das schönste bleibende Zeugnis von Sanderlings Zusammenarbeit mit der Dresdner Kapelle dar.

 

Gedenkkonzert für Kurt Sanderling
Sonntag, 9. Oktober, 18 Uhr, Großer Saal des Berliner Konzerthauses

Konzerthausorchester Berlin
Michael Sanderling, Dirigent
Thomas Sanderling, Dirigent
Daniel Barenboim, Klavier

Wolfgang Amadeus Mozart "Maurerische Trauermusik" KV 477
Ludwig van Beethoven Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73