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Musikalische Antipoden

Die Sächsische Staatskapelle und ihr künftiger Chefdirigent Christian Thielemann teilen sich jetzt schon die Zimmer. Dabei sind die Bande nur erst verknüpft, noch gar nicht standesamtlich verknotet. Bislang haben Einspringer-Konzerte und kurze Ausflüge genügt. One-Night-Stands sozusagen. Aber mit ausreichend Proben. Nun gab es jedoch in aller Öffentlichkeit eine Tour quer durch Europa, angefangen im bald schon gemeinsamen Haus, der Semperoper in Dresden. Dort haben Thielemann und Kapelle am 3. September erstmals die musikalischen Antipoden Ferruccio Busoni und Hans Pfitzner miteinander verbunden und ihnen einen krönenden Johannes Brahms folgen lassen.

Wenn es nach der Laune in den Flitterwochen geht, stehen Orchester und Dirigent gemeinsame Sternstunden bevor (Fotos: Matthias Creutziger)

Zum besseren Verständnis ließ Thielemann das „Nocturne symphonique“ von Busoni gleich zweimal erklingen – was wie eine spontane Idee wirkte und das Publikum tatsächlich zu hoher Konzentration bei diesem Acht-Minuten-Nachtstück hinriss. Verständnis war auch bei Pfitzner gefragt, dessen musikalisches Oeuvre nachhaltig von seinen politischen Äußerungen und Haltungen beeinträchtigt ist. Dabei wurde sein einziges Klavierkonzert sogar in Dresden uraufgeführt – unter Fritz Busch! Christian Thielemann, in früheren Jahren wiederholt für sein Engagement in Sachen Pfitzner-Musik gescholten, zog zu Recht eine Trennung zwischen Autor und Werk und hob letzteres auf den Prüfstand. Das Es-Dur-Konzert ist freilich keine pianistische Schonkost und folglich auch nicht bei allzu vielen Tastenkünstlern im Repertoire. Mit dem 1963 in Florida geborenen Pianisten Tzimon Barto, der es eigens für diese zweite Zusammenarbeit mit der Staatskapelle einstudierte, war ein bestens geeigneter Partner gefunden. Ausgewogen zelebrierte er die lyrischen Parts, verband sie überzeugend mit Pfitzners Brachialromantik und neoklassischen Phrasen, die höchste Virtuosität abverlangte. Den krönenden Schlussstein dieser »musikalischen Antipoden«, wie das Programm mit Werken des Neutöners Busoni und des Bewahrers Pfitzner überschrieben war, setzte der zu Lebzeiten mal als konservativ und mal auch als zu modern verschrieene Johannes Brahms mit seiner 1. Sinfonie. 

Die ersten drei Konzerte, die Thielemann als Gastspieldirigent mit der Sächsischen Staatskapelle unternahm (lediglich zu einem Einspringer-Konzert war er im vorigen Jahr schon einmal mit dem Orchester in Wien), beinhalteten aber gar nicht diese Werke der Antipoden, sondern eine Monstranz des Meisters Anton Bruckner. Mit dessen 8. Sinfonie brillierte Thielemann ja bereits – auf „Brautschau“, wie eine Zeitung titelte – in Dresdens Semperoper sowie in der Folge auf Doppel-CD (Profil Günter Hänssler, Edition Staatskapelle op. 31). Sie wurde nun nach gründlichem Putzen erst in der Essener Philharmonie und dann im Großen Saal des Musikvereins Wien, also am Ort ihrer Uraufführung geboten. Dort war es ein gefeiertes Heimspiel. Sowohl Thielemann als auch das Orchester sind bei den Wienern beliebt und wurden zum 200jährigen Bestehen des Musikvereins heiß erwartet. Der aufbrandende Jubel eineinhalb Stunden später war überwältigend.

Das Traumpaar auf Hochzeits-, nein: Liebesreise in Luzern

Die nächste Reisestation ist Luzern gewesen, wo sich auch zum diesjährigen Lucerne Festival unter dem Thema „Nacht“ die besten Orchester der Welt ein Stelldichein gaben. Die Dresdner mit ihrem Chef in spe, unabhängig voneinander sind natürlich sowohl die Kapelle als auch Thielemann schon in diesem herausragenden Neubau von Jean Nouvel gewesen, der das Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) unter einem gewaltig auf den Vierwaldstättersee kragenden Dach vereint, sie gaben hier gleich zwei Konzerte. Es erklang einmal mehr Bruckners „Mysterium“, wie er diese klangstarke Sinfonie selbst mal bezeichnete, abends drauf folgte dann das »Antipoden«-Programm, wie es in Dresden einstudiert war. Busoni freilich nur ohne Wiederholung, dafür als Zugabe das „Lohengrin“-Vorspiel zum dritten Aufzug. Tzimon Barto revanchierte sich für den Beifall, mit dem seine funkensprühende Fingerfertigkeit ebenso gefeiert wurde wie die überzeugende Interpretation des Pfitzner-Konzertes, mit Chopins cis-Moll op. posthum. Aber auch Michael Haefliger, Intendant des Lucerne Festival, zeigte sich begeistert und sprach dieser Traum-Paarung von Chef und Orchester Einladungen für die Folgejahre aus.

In einem weiteren akustisch bedeutsamen Bau sollte die Tour am Montag ausklingen. Die Berliner Philharmonie bot Raum für eine prachtvolle Klangentfaltung, das Publikum zeigte sich aufgeschlossen und begeistert genug, um Busoni wiederum zweimal zu hören und erst nach einem weiteren Abstecher zu „Lohengrin“ durften die Sächsische Staatskapelle und Christian Thielemann von der Bühne. Eine spannende, eine aufregende Tour an gar nicht so fremde Orte, denn zumindest Wien dürfte für Dirigent und Orchester so etwas eine Wiederkehr gewesen sein. Dass diese neue Liaison nun erstmals in Berlin – als Thielemanns Geburtsort und langjähriger Wirkungsstätte – vorgeführt wurde, war nahezu spektakulär.