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Überraschender Stabwechsel bei den Berlinern

"Im Takt der Zeit" hieß die vor einigen Jahren veröffentlichte CD-Edition der Berliner Philharmoniker mit exemplarischen Interpretationen aus der Geschichte des Orchesters. Mit dabei: das Debüt eines zweiunddreißigjährigen Jungspunds mit schwarzen Locken. Bei seinem ersten Konzert mit den Berlinern hatte Simon Rattle Mahlers Sechste Sinfonie auf dem Pult – da war er, "der Beginn einer wunderbaren Freundschaft", auch wenn es der junge Dirigent zwei Jahre später noch strikt ablehnte, Karajans Nachfolge anzutreten: "Ich bin zu jung…"

Fast ein Vierteljahrhundert später, in der Semperoper. Sir Simon ist seit 2002 hauptamtlicher Steuermann der Berliner. Mit "seinen" Musikern hat er in den letzten Jahren viel bewegt; nicht zuletzt das zu seinem Amtsantritt 2002 ins Leben gerufene Ausbildungsprogramm »Zukunft@BPhil« hat überwältigenden Nachhall gefunden. Längst überfällig schien – nach der thematischen Neuausrichtung des Musikfestspielpreises durch Jan Vogler – die Auszeichnung dieses wegweisenden Programms. Am Freitag Abend wurde der mit 25.000 Euro dotierte Preis an Orchester und Chefdirigenten feierlich ausgereicht.

Überraschender Stabwechsel des Dirigenten zwischen zweitem und drittem Satz – warum? (Foto: Jim Rakete)

Rattle und die Berliner bedankten sich mit einem Abend, den keiner der Hörer im ausverkauften Rund so schnell vergessen wird. Auf dem Programm stand »Mahler 6«, die beiden Ersten Konzertmeister Guy Braunstein und Daishin Kashimoto teilten sich das Pult (Braunstein spielte später die traumhaften Soli, mit überkreuzten Beinen, als säße er bei Oma auf der Couch). An diesem Abend dehnte sich das Mahlersche Klang-Universum aus: Super-Novae, gefährliche Schwarze Löcher, dunkle Materie… Und dazwischen das Streicherschiff, vorangetrieben von einer Batterie blitzender Blechbläser, die Stürze stolz gehoben. Luftdicht gewebt waren die Streicher-Uniformen, selbstbewusst und mit einer fast grimmig lärmenden Freude gingen die Musiker auf Entdeckungsfahrt. Über Mimik und reduzierte, prägnante Gesten hielt Rattle die Musiker auf Kurs, setzte vereinzelt Aufmerksamkeitspunkte. Auf kurzer Rast zwischen den Sätzen wechselte er den Dirigentenstab aus, dann rauschte das Schiff weiter.

In der digitalen Konzerthalle der Berliner – eine weitere Neuerung, eingeführt vor zwei Jahren – lässt sich die Sinfonie übrigens nachhören, vor ihrer Reise nach Dresden haben sie die Berliner live mitgeschnitten. Die siebte, achte und neunte Sinfonie reicht Rattle dann nach der Sommerpause im Scharounschen Stammhaus nach.

Eine Textfassung des Artikels ist am 6. Juni in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.