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Countdown zum Muttermord: »Elektra« in Leipzig

„Elektra“ ist ein ewiger Mythos. Opfertum schreit nach Rache und gebiert neue Opfer. Ein schrecklicher Kreislauf, aus dem sich die Menschheit nur durch eine Abkehr von „göttlichen“ Erlösungs- und Schicksalsgedanken befreien kann, hin zu angewandter Aufklärung und praktizierter Vernunft. „Elektra“ ist Mythos seit Sophokles, also seit knapp zweieinhalbtausend Jahren; seit Strauss, also seit kurz vor dem ersten deutschen Weltkrieg; und wieder seit vorigen Samstag. Da hatte die auf Hugo von Hofmannsthal zurückgehende Oper nach Sophokles‘ Tragödie Premiere in Leipzig.

Das vor gut fünfzig Jahren eröffnete Haus ist derzeit bekanntlich zur Wiederaufbereitungsstätte früherer Inszenierungen von Peter Konwitschny mutiert. Der nunmehrige Chefregisseur scheint bestrebt und in der Lage zu sein, die eigenen Arbeiten am Augustusplatz zu versammeln. Seine „Elektra“ war zuvor bereits in Kopenhagen und Stuttgart zu sehen, doch das sollte an der Pleiße kein Problem sein. Ein so stimmiges Konzept kann gar nicht oft genug auch an verschiedenen Orten gezeigt werden! Es sticht sogar wohltuend aus dem konträr zu allen 2013 anstehenden Wagner-Feiern begonnenen „Ring“ von Gluck-Opern hervor.

Konwitschnys „Elektra“ beginnt mit einem Vorspiel. Agamemnon und seine drei Kinder feiern die Rückkehr aus Troja im Bade. Dort wird der liebende Vater von Aegisth, dem Liebhaber seiner Frau Klytämnestra, vor den Augen der Kinder erschlagen. Elektra, Chrysothemis und Orest tragen fortan ein unüberwindliches Trauma mit sich, von dem auch ihre Mutter nie wieder freikommen wird.

Countdown bis zum Muttermord: Doris Soffel (Klytämnestra) und Janice Baird (Elektra). Foto: Andreas Birkigt

Holzhammer-Theater war gestern, bei Konwitschny braucht es ein Beil. Die Mordwaffe bleibt ebenso wie die Badewanne mit der Leiche Agamemnons den ganzen Abend über im Bilde. Damit auch jeder einsieht, wie sehr die Schatten dieses Totschlags über dem Folgegeschehen lasten. Doch damit nicht genug, das Vorspiel findet vor einer riesigen Spiegelwand statt – theatrales Ausdrucksmittel, um dem Publikum zu zeigen: Dieses geht uns alle an.
Geht es aber tatsächlich und insofern hat Leipzigs Chefregisseur ziemlich recht. Tyrannenmord mag seine Gründe haben (schließlich opferte Agamemnon zuvor Tochter Iphigenie, um guten Wind für seinen Feldzug gen Troja zu haben), er setzt sich aber fort mit Schuld und Sühne. Auch Muttermörder Orest – der nach langer Absenz vom Hofe als Rächer zurückkommt und nicht nur Klytämnestra und deren Gefährten Aegisth tötet, sondern gleich noch den ganzen Hofstaat, alle Bediensteten und letztendlich sogar die Schwestern abschlachten wird – auch er vollzieht einen Schnitt mit der Vergangenheit und liefert sich gleichzeitig einer düsteren Zukunft aus. Dabei haben Elektra und Chrysothemis doch diese blutige Rache doch so sehr ersehnt und wollten sie nun endlich feiern. Ihre letzten Szenen und auch das brodelnde Orchesterspiel dazu, sie werden von Gewehrsalven zerfetzt.

Ein solches Theater greift an und greift ein. Nach dem Öffnen der Spiegelwand sind bewegte Wolkenlandschaften zu sehen, die den Hintergrund raumgreifend ausfüllen. Eingeblendet ist eine rückläufige Zeitangabe, deren Countdown bei 01:17 startet und exakt zum Muttermord bei Null ankommen wird. Für die Herrscherhaus-Atmosphäre genügt eine lederne Sitzgruppe in Weiß. Den Beginn des Massenmordens feiert ein Feuerwerk, zugleich setzt sich die Zeitangabe in irrwitziger Geschwindigkeit nun im Vorlauf fort – wie lange mag es gedauert haben, bis diese Achse die Szenarien von Afghanistan, Irak, Libyen berührt?

Peter Konwitschny und sein Ausstatter Hans-Joachim Schlieker haben in dieser Sicht den Mythos ernst genommen und dessen Allgemeingültigkeit ergreifend vor Augen geführt. Für die Ohren zuständig zeichnete Leipzigs Generalmusikdirektor Ulf Schirmer, der ab kommender Spielzeit der Oper auch als Intendant vorstehen wird. Er verlangte dem Gewandhausorchester in dieser Produktion eine Unmenge an Energie ab, das Blech tönte gewaltig, brüllte die Zerrissenheit des Geschehens geradezu heraus. Erstaunlich, wie das Gesangsensemble diesem vulkanischen Treiben standzuhalten vermochten. Ob Doris Soffel als Klytämnestra, ob Janice Baird in der Titelpartie, ob Gun-Brit Barkmin als Chrysothemis – die Damen sangen kraftvoll, ohne zu protzen. Ihnen gelang durchdringend eine Musik, die tief aus der Seele kommt, deren Dramatik mehr sagt als alle Worte des Librettisten. Auch Tuomas Pursio als Retter Orest beherrschte den Furor überzeugend, und doch bewahrte er sich eine feine Noblesse. Gegen die suchte Viktor Sawaley als Aegisth mit dem Poltern des Wüterichs anzutreten, ein Eindringling ins Zentrum der Macht, dem die Furcht beständig Begleiter sein musste.

Keine Abstriche, auch wenn es mitunter zu tumultartigen Unstimmigkeiten zwischen Bühne und Graben kam, beim Personal der Mägde und ihrer Aufseherin Ulrike Helzel. Sie boten stimmlich Ebenbürtiges und spielten überzeugend die Grundfesten eines längst ins Wanken geratenen Reiches. Bis zum blutigen Ende.

Aufführungen: 24. April, 1. Mai, 13., 18. Juni 2011