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Radebeuler Angstblüte

Wer bin ich?, fragt sich das Landesbühnenorchester derzeit bang, und wenn ja, wie viele? Das Fusionsgespenst geht wieder um in Sachsen, und Radebeuler Wutbürger malen schon die Transparente. Der "gesunde Organismus Landesbühnen" solle von Seiten des Kunstministeriums einer "strengen Diät" unterzogen werden, so die warnenden Worte der Musiker auf einem Beipackzettel zum 3. Sinfonischen Konzert; "schlaflose Nächte" habe man angesichts des "irreparablen Einschnitts".

Das Landesbühnenorchester fühlt sich derzeit höheren Mächten hilflos ausgeliefert, fürchtet "irreparable Einschnitte" (Foto: claudiarndt / photocase.com)

Erstaunlich, mit wie viel Leidenschaft sich das Orchester in dieser kritischen Situation dem Tagesgeschäft widmet. Engagiert wurde das Mammutprogramm dreier jeweils viersätziger Werke ohne Pause musiziert. Die Radebeuler mobilisierten durchweg ungeahnte Kraft- und Konzentrationsreserven, legten sich tief in jede Klangkurve. Wie bei Pflanzen, die bei Nährstoffmangel über und über zu blühen beginnen, wuchs der Klang an diesem Abend; Michele Carulli beim ekstatischen Dirigat zuzusehen, ersetzte die Heizung im ausverkauften Kirchenschiff. Und das, wo das Werk zu Beginn, Georges Bizets Erste Sinfonie, doch irgendwie nur eine studentische Fleißarbeit ist: eine Melange aus Schumann, Mendelssohn, Rossini. Allenfalls der eingängige dritte Satz taugt fürs Radiowunschprogramm.

Kreuzorganist Holger Gehring übernahm danach am Jehmlich-Instrument souverän die Orgelparts in Francis Poulencs Konzert für Orgel, Streichorchester und Pauken von 1936 und Camille Saint-Saëns‘ 1886 beendeter Sinfonie Nr. 3 c-Moll. Reizvoll war, die Werke einmal gegenübergestellt zu hören. Noch eindrücklicher, gerade in diesen Tagen, wäre die Aufführung in chronologischer Reihenfolge gewesen. Hat Saint-Saëns Ende des neunzehnten Jahrhunderts doch kaum mehr zu bieten als gefällige Spiegelfechterei, die in ein bombastisch wummerndes Kraftfinale mündet, während Poulencs luzides, tonlich klug ausbalanciertes Werk dem Hörer mehr Fragen stellt als beantwortet. Das Konzert am Samstag endete erneut mit einer eindringlichen Ansprache des Dirigenten; die Radebeuler, klar, klatschten kräftig.

Eine Textfassung des Artikels ist am 1. Februar in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.