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Erich und die Zeit der Kriege

Um Erich Kästners geniale Weit- (und Welt-)sicht unter Beweis zu stellen, bedarf es ganz gewiss nicht des Schauspielers Walter Sittler. Dennoch hat sich der Mime am vergangenen Wochenende mal wieder des 1899 in Dresden geborenen Schriftstellers angenommen und – nach dem Publikumserfolg „Als ich ein kleiner Junge war“ – sein neues Projekt „Vom Kleinmaleins des Seins“ präsentiert. Wieder eine Tourneeproduktion von Martin Mühleis, wieder komponierte Libor Síma die Bühnenmusik (beider Partnerschaft entsprang kürzlich auch das „AHAB“-Spektakel nach Herman Melvilles „Moby Dick“) und wieder fand die Premiere in der Gläsernen Manufaktur von Volkswagen statt. Den zwei geplanten Vorstellungen musste aufgrund großer Nachfrage am Samstag ein Zusatztermin beigefügt werden, der weder bei Sittler noch beim Manufaktur-Service irgendwie nach raschem Extra roch. Routiniert und professionell wurde die Herausforderung als Chance gesehen.

Nach dem „kleinen Jungen“ wurde diesmal die Vita Erich Kästners fortgeschrieben bis ins Sterbejahr 1974. Eine Biografie eigener Hand gibt es nicht für diese turbulenten Jahrzehnte, in denen Kästner oft genug selbst nah an den Tod geriet. Also sammelte man Tagebuchaufzeichnungen, Briefe sowie Veröffentlichungen in Zeitungen und Büchern, um das Geschehen jener Zeit und die dazu erfolgten Reflexionen des Autors zu illustrieren. Kästner politisch und Kästner persönlich, bald war das sowieso nicht mehr voneinander zu trennen. Wenn er an seine Mutter schrieb, war das stets von der Sorge um ihr Wohlergehen getragen. Der Erfolg seines Schreibens stand früh im Kontext zur Bücherverbrennung der Nazis auf Berlins Opernplatz, der er als einziger der namentlich Genannten persönlich beiwohnte. Aber nachdem er 1. Weltkrieg, Inflation und des deutschen Volkes Taumel vor den Horden des Anstreichers aus Braunau aus nächster Nähe er- und überlebt sowie brillant geschildert hatte, wollte er das Land nicht verlassen, überdauerte die drecksbraune Zeit in Berlin, erschrak über den Untergang Dresdens und rettete sich gerade noch rechtzeitig nach München, wo er nach ʼ45 die „Kleine Freiheit“ wider die Sattheit von großem Wirtschaftswunder und Remilitarisierung etablierte.

In zweimal 45 Minuten monologisiert Walter Sittler den Werdegang eines der unbestechlichsten Autoren des 20. Jahrhunderts, der nach wie vor fälschlicherweise ausschließlich als Kinderbuchautor apostrophiert wird. Erich Kästner ist unbedingt in einer Reihe etwa mit Ossietzky und Tucholsky zu sehen. Allein die Textauswahl im „Kleinmaleins“ begründet dies überdeutlich. Martin Mühleis hat ein höchst schlüssiges Skript geschaffen, das treffsicher die Zeitläufe abbildet und Kästners Entwicklung reflektiert. Libor Símas Musik, in Kammerbesetzung mit dem Komponisten am Saxofon vorgetragen, schärft die Sentenzen und Stimmungen, setzt hier und da auch klingende Widerhaken, unterlegt vor allem die emotionale Seite der Schilderungen. Die trägt Walter Sittler stehend, sitzend, Tanzschritte andeutend, Mutter- und Vater-Briefe schreibend geradezu wie ein Abbild Erich Kästners vor. Anzug, Hut und Mantel zeigen ihn als Mann von Welt, das gesprochene Wort beweist, wie sehr er an der Welt gelitten hat. Dieses Schriftstellerleben, ohne ins allzu Deklamatorische zu verfallen, so lebendig darzustellen, eineinhalb Stunden Text nicht nur auswendig, sondern in jeder kleinsten Nuance perfekt prononciert vorzutragen, das gebietet höchsten Respekt und verdienten Applaus.

Wer die geniale Welt- und Weitsicht Erich Kästners unter Beweis stellt, zeigt auch dessen fortwährende Aktualität. Und wem das so gekonnt wie Walter Sittler gelingt, der stiftet gewiss manchen Zuschauer auch wieder zum Kästner-Lesen an.

(Foto: www.sagas-produktionen.de) 

Eine Textfassung des Artikels ist am 22. November in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.