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„Kunst ist Waffe im Kampf der Klasse“ – Bühnenfassung von Tellkamps »Turm« im Dresdner Schauspielhaus uraufgeführt

Die Theaterfassung von Tellkamps «Geschichte aus einem versunkenen Land» nahm das Dresdner Bildungsbürgertum am Freitagabend mit Begeisterung auf. Nach der mehr als dreistündigen Uraufführung im Dresdner Schauspielhaus feierte das Publikum die Darsteller und das Team um Regisseur Wolfgang Engel mit viel Beifall und Bravi. Auf der Bühne beglückwünschten sich Regisseur Engel und der sichtlich gerührte Schriftsteller Tellkamp gegenseitig. Dabei hatte ein etwas misstrauischer Autor im Vorfeld in einem Interview mit der DNN gesagt, er verstehe nichts vom Theater. "Ich habe erst gedacht, das wird schiefgehen"

Groß schien vielen die Gefahr, dass der hermetische Kosmos aus Figuren, Orten und Stimmungen, den Tellkamp in seinem Buch aufspannt, auf ein DDR-Panoptikum á la «Good Bye Lenin» zusammenschnurren müsste, um auf der Bühne überhaupt fasslich zu werden. In seiner 100. Inszenierung hat sich Regisseur Engel daher für einen klugen Kunstgriff entschieden: Er zeigt die allmähliche Besitznahme des epischen Textes durch das handelnde Theater direkt auf der Bühne.

Fotos (2): Matthias Horn

Mit dem Protagonisten Christian Hoffmann trifft das Publikum dort anfangs auf der Geburtstagsfeier seines Vaters, des Chirurgen Richard Hoffmann (Holger Hübner), ein. Der Vorhang hebt sich da so knarrend wie die Standseilbahn, die Christian hinein in die hermetisch abgesiegelte Geisteswelt der "Türmer", der gut situierten Bewohner des Dresdner Stadtteils "Weißer Hirsch", trägt. Parallel erzählt wird ein Treffen des Parteisekretärs (Bernd Lange) mit Schriftstellern und Verlegern; stalinistische Hardliner treffen hier auf junge, hoffnungsvolle Idealisten wie den Wirtschaftswissenschaftler Philipp Londoner (Matthias Reichwald).

Der Bogen des Abends spannt sich später über die Armeejahre Christians, seine Verurteilung ins Militärgefängnis von Schwedt nach seinem Aufbegehren gegen einen Vorgesetzten und die spätere Abordnung in eine Karbidfabrik. Parallel wird das Leben auf dem "Hirsch" weitererzählt.

Ein deklamierender Bürgerchor – man trägt die Tellkampsche Winzermütze mit den charakteristischen Zebrastreifen als humorvolle Reverenz – führt zuerst in die Szenerie ein. Der Blick geht den Hügel hinauf, gen "Sybillenhof", wie das nach wie vor beliebte Ausflugslokal im Buch heißt. Der gesamte erste Teil des Stückes ist der Beschwörung der "süßen Krankheit Gestern" durch Worte, Sätze, ganze Passagen gewidmet, die die Schauspieler sich gegenseitig auf dem baulich abstrakt gehaltenen Bühnenbild von Olaf Altmann vorsprechen.

Die Erzählsituation bleibt dabei gewahrt: die Grüppchen auf ihren Balkonwaben deuten verschiedene Szenen und Dialoge an, dann schweift der Blick weiter, und man hört gemeinsam einer anderen Partei zu. Ein DJ im Dachgeschoss (Rafael Klitzing, der bereits Engels Dresdner "Tell" beschallte) spielt dazu gekonnt mit Erinnerungs- und Assoziationsfetzen, mixt Schuberts "Unvollendete" mit DDR-Liedern, würzt das Repertoire der damaligen Klein- mit dem der Bildungsbürger. Hier wird die "Rote Aristokratie" wieder zum Ereignis.

Thront als DJ im Dachgeschoss der "Türmer": Rafael Klitzing

Das Stück reißt Charaktere an, führt sie zusammen, dringt tiefer in sie ein. Bis zu diesem Punkt ist die Inszenierung auch eine Verneigung vor der Tradition des Sprechtheaters der DDR. Im zweiten Teil dann verknappt sich der Text zunehmend – und endlich dürfen die Schauspieler auch miteinander spielen. Dabei geht es um Liebe, Verrat und Sterben. Das Theater übernimmt die Regie, die Kostüme befreien sich aus dem vorrangig staubgrauen DDR-Chic und kulminieren auf einem wilden Tanzfest der "Türmer".

Gelungen ist den Theatermachern nicht zuletzt der radikale Einbruch der Wendewirklichkeit in die gesternselige Welt des Dresdner Nobelviertels. Nahe des Hauptbahnhofs findet der Theaterabend dann seinen bedrückenden Höhepunkt: der Soldat Christian trifft auf seine Mutter, die unter den Wendedemonstranten ist. Wie ein wacklig gedrehter Dokumentarfilm steht das brutale Geschehen dem Zuschauer hier vor Augen. Alle literarische Verbrämung weicht: Die Wirklichkeit, sie ist da.