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Sommerkorrespondenz 2009, Tiroler Festspiele Erl, Teil 3: Konzerte am Sonntag

Das Wetter schlägt Kapriolen, und musikalisch gilt es auch, sich rasch und heiter umzustellen, wenn am Morgen nach der Meistersingernacht die große Schar der Fans und solcher, die es werden könnten, das Festspielhaus füllt, weil es in der Sonntagsmatinee heißt „Franui

spielt Brahms Volkslieder“. Sven-Eric Bechtolf liest dazu aus Ödon von Horvaths frühem Roman „36 Stunden“.
„Franui“ ist der Name einer Almwiese in Osttirol, wo die zwölf Musiker und Musikerinnen fast alle aufgewachsen sind, die inzwischen der Musicbanda mit Kultstatus, durchaus nicht nur in Osttirol, angehören. Die vier Frauen und acht Männer mischen die Möglichkeiten der Holz- und Blechblasinstrumente mit denen der Harfe, der Zither, des Hackbretts, des Akkordeons, der Violine und des Basses, dazu singen etliche Mitglieder in vornehmlich schlichtem Volkston, unisono und in leichter Mehrstimmigkeit. In den 16 Jahren ihres Bestehens hat sich diese spezielle Banda auch ein spezielles Repertoire erarbeitet, dazu eine Schar von Anhängern gewonnen, nicht zuletzt durch die Mitwirkung bei außergewöhnlichen Musiktheaterprojekten an ausgewiesenen Orten der internationalen Moderne. Beim österreichischen Label col-legno sind zudem zwei vielgelobte CDs erschienen, „Schubertlieder“ 2007 und zuletzt „Brahms Volkslieder“, letztere wurden auch in der Festspielmatinee geboten.
Sven Eric-Bechtolf wurde gerade zum neuen Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele gekürt, der Schauspieler und Regisseur hat ebenfalls für col-legno eine so vergnügliche wie erhellende und äußerst unterhaltsame Lesung der gesamten Ringdichtung Richard Wagners eingespielt.
Und zunächst auch, als Überleitung und Umschaltpause vom Wagnerschwall des Vorabends, zur Begrüßung ein „Rheingoldcoctail“ nach Art der Banda, in dem es jazzt mehr oder weniger free, was auch auf den grundsätzlichen Stil der folgenden Bearbeitungen und Interpretationen der Volkslieder von Johannes Brahms aus dessen Sammlung einstimmt. Instrumental, vokal, zusammen, verkürzt oder in ganzer Länge erleben wir eine Zusammenstellung von Liedern, die zu einer Art musikalisch erzählter Geschichte verschmelzen, die zu Tränen rührt, uns schmunzeln lässt und immer wieder Vergnügen bereitet, wenn wir eben noch den Ton der Kaffeehausmusik vernehmen, in den sich unverhofft ein atonaler Schlenker schleicht. Mal schluchzt die Klarinette klezmatisch, mal schließt man bei Hackbrett und Zither die Augen und sieht prompt Lederhosen um gleich darauf bei ganz zarten musikalischen Passagen in eine Sehnsuchtswelt aus Märchen- und Heimatfilmidylle entführt zu werden. So schwebt der Vormittag dahin zwischen Almidylle und Rummelplatz und bietet genau das musikalische Panorama für die Geschichte einer Liebe, die zu Ende ist, bevor sie begonnen hat. Gerade mal 36 Stunden aus dem Leben zweier schöner Seelen in armen Leibern beschreibt Horvaths posthum veröffentlichtes Romanfragment, das Sven-Eric Bechtolf ein wenig zu interpretationsversessen, musikalisch zärtlich untermalt, als sozial-melancholisch, mahnendes Wort zum Sonntag rezitiert.
Spätestens nach einer Stunde des fast zweistündigen Programms aber, als die Mittel bekannt schienen und die notwendige Wiederholung kaum neuen Gewinn brachte, als man den Eindruck gewinnen konnte, dass hier Melancholie mit Gleichmaß verwechselt werden könnte, verblasste der Funke der Begeisterung, der anfänglich doch weit mehr Hoffnung auf interpretatorischen Reichtum verhieß. Vielleicht blieben am Ende die schönen Klänge von der Alm doch gänzlich sündlos, und das soll ja bekanntlich so sein auf der Alm.

Am Abend dann ein Sonntagskonzert der diesjährigen Reihe mit dem Orchester der Tiroler Festspiele, die an drei Terminen dem sinfonischen Schaffen Peter Tschaikowskys gewidmet ist und noch die folgenden Symphonien Nr. 5 und 6 zu Gehör bringen wird.
Zunächst aber mit der sehr jungen Sophie Pacini als Solistin das Klavierkonzert Nr. 1, e-moll, op. 11, von Frédéric Chopin. Ein Werk, das sanft einfließt in die Abendstimmung und für dessen solistischen Part Gustav Kuhn mit seinem höchst sensibel reagierenden Orchester der Pianistin einen wunderbar weichen Klangteppich bereitet. Auf dem schwebt dann ihre unspektakuläre aber sehr persönliche Interpretation auch vorwiegend sanft und träumerisch dahin.
Tschaikowskys Symphonie Nr. 4, f-moll, op. 36, ist ein vorwiegend aufbrausendes Werk mit viel schmetternder Blasmusik und im Gegensatz dazu mit schwermütigen dunklen Streicherklänge im Andantino des zweiten, sowie den heiteren im Scherzo mit den Pizzicato-Passagen im dritten Satz. Hier hätte die Präzision noch einen Tupfer an Genauigkeit vertragen. Sonst aber konnte Kuhn voll damit rechnen, dass die bestens aufgelegten Musikerinnen seinen Intensionen mit Leidenschaft und vollem Einsatz folgen. So nimmt der anfängliche Schicksalsklang dieses autobiografischen, regelrecht zerklüfteten Werkes sofort gefangen. Und Kuhns Interpretation spannt einen dynamischen Bogen hin zum hart aufbrausenden Finale, das mit seinen Klangkaskaden alle so zarten wie optimistischen Anklänge des Werkes begräbt. Mit dem ausgesprochen gut disponierten Klangkörper in allen Instrumentalgruppen gelingt es an diesem Abend einem nicht selten missachteten Werk ein hohes Maß an Würde zu verleihen. Die Kraft musikalischer Prägnanz überstrahlt den Abend, dessen emotionaler Kraft und künstlerischem Anspruch man sich schwerlich entziehen kann.

Boris Michael Gruhl