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Dieter Jaenicke: „Ein innerstädtischer kultureller Brückenschlag, mit dem wir weit über die Stadt hinaus überraschen könnten“

»Musik in Dresden« dokumentiert im folgenden einige Auszüge aus dem Referat des Hellerauer Intendanten Dieter Jaenicke zur jüngst zu Ende gegangenen Operettentagung am Leubener Haus. Leider ging Dieter Jaenicke früher und erlebte nicht, wie der nachfolgende Referent unterbrochen wurde vom in diesem Referat analysierten Publikum. Das enterte nämlich das "Fledermaus"-Restaurant pünktlich fünfundsiebzig Minuten vor Vorstellungsbeginn, besetzte noch den letzten freien Platz und tat unmissverständlich dar, man wolle jetzt hier zu Abend essen, man tue das immer und lasse sich von keiner Macht der Welt davon abhalten… Ein Schauspiel fürwahr, aber ein entmutigendes für all jene, die hoffen, das Genre Operette wäre für eine neue Publikumsgeneration zu öffnen.

Er ist eher in der zeitgenössischen Musik zu Hause; dennoch stammte einer der erhellendsten Beiträge der Operettentagung, die im Juni über die Bühne der Staatsoperette ging, von ihm: Dieter Jaenicke (Foto: M.M.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

So sehr ich mich über die Einladung gefreut habe, so sehr habe ich mich auch gewundert: ich habe nämlich von Operette überhaupt keine Ahnung. Das ist ein Kunst-Genre, das mir ziemlich fremd ist. Meine Kenntnisse gehen über vage Erinnerungen an eine Fledermaus und eine Lustige Witwe, die ich gar nicht lustig fand, die ich mir in Jugendzeiten eher ansehen und anhören musste als wollte, nicht hinaus.

Was soll ich hier also sinnvolles beitragen?

Meine musikalischen Helden sind nicht Strauss und Lehar, noch nicht mal Mozart, Bach oder Beethoven und übrigens auch nicht Kagel, Stockhausen oder Lachenmann, sondern Neil Young, John Lennon, Jony Mitchel, John Cage und Steve Reich.

Ich versuche es zunächst mal über den Begriff des Zeitgenössischen, da bin ich ziemlich zuhause.

Wie ich dem Flyer zu dieser Veranstaltung entnehme, nimmt die Operette ja für sich in Anspruch: Ich zitiere: “in ihr – der Operette – der stets zeitgenössisch aktuellen und kritischen Gattung, spiegelt sich – zumeist satirisch gebrochen – die Geistes-, Sozial-, Politik- und Gesellschaftsgeschichte ihrer Entstehungszeit wider.“

Ich bin mir ja nicht ganz sicher, ob Ihr Publikum tatsächlich aus diesem Grund oder doch eher aus einem ganz einfachen Unterhaltungsbedürfnis zu Veranstaltungen der Operette kommt, ob da nicht eher das vertraute, bekannte, amüsante, die leichte Unterhaltung, als das Bedürfnis nach kritischer Reflexion der Geistes-, Sozial-, Politik- und Gesellschaftsgeschichte eine Rolle spielen. Aber selbst wenn dem so wäre, deutet das Wort Geschichte ja schon darauf hin, dass es hier eher um etwas Vergangenes geht. Die entscheidende Frage ist ja doch die: gibt es denn die zeitgenössische Operette? Gibt es sie heute, wird sie heute produziert, komponiert, gespielt? Erzählt uns die Operette etwas über uns heute? Womöglich sogar etwas kritisch Bedenkenswertes? Und so sie es nicht tut oder noch nicht tut, könnte sie es denn tun?

Die Frage ist etwas ungerecht. Die Tatsache, dass die Spielpläne in den Stadt- und Staatstheatern bis heute zu einem großen Anteil aus Stücken bestehen, die 100 und mehr Jahre alt sind, hat noch wenige zu der Vermutung animiert, da ginge es nur um Vergangenes. Aber natürlich stehen in den Spielplänen der Theater der Übermacht der 100-jährigen Klassiker auch viele zeitgenössische Stücke gegenüber.

Ich glaube, das Zeitgenössiche vermisst man eher in den Spielplänen von Operette. Erneut würde ich vermuten, dass dieses Vermissen von etwas Zeitgenössischem in der Programmgestaltung für das Publikum nicht zwangsläufig gilt.

Befassen wir uns noch einen Moment lang mit der reinen Begrifflichkeit „zeitgenössisch“. Wortwörtlich genommen heißt das ja nicht mehr als gegenwärtig, also etwas bezieht sich auf die Gegenwart, ist ihr angesiedelt, in ihr geschaffen, produziert, präsentiert, in ihr zuhause. Aber in Wirklichkeit schwingen in dem Begriff „zeitgenössisch“ natürlich viel mehr Konnotationen mit. Modern, innovativ, neu, avantgardistisch, kritisch, vielleicht sogar politisch und politisch korrekt, oder in seiner hardcore-Version eben gerade nicht politisch korrekt.

Finden wir das in der Operette? Gibt es in diesem Sinne zeitgenössische Operette? Und wenn es sie gäbe, wäre es das, was das Publikum der Operette möchte? Wie könnte zeitgenössische 0perette aussehen ohne dass das Publikum in Scharen das Weite sucht?

Wagen wir mal einen Blick in andere verwandte Genres: die zeitgenössische Musik z.B. – und jetzt bewegen ich mich also auf dem festen Boden des Genres, in dem ich eher zuhause bin. Von wegen fester Boden! Die zeitgenössische Musikproduktion gleicht eher einem Minenfeld von Abgrenzungen, ganz schön viel Mißgunst und unsicheren Beschreibungen. Formell mit Sicherheit innovativ und experimentell, kritisch dem eigenen Gegenstand gegenüber, aber das genannte Kriterium „kritischer geistiger, sozialer, politischer und gesellschaftlicher Reflexion“ sucht man in großen Teilen der zeitgenössischen Musik doch vergebens. Da geht es allzu oft eher um ein formales Kreisen um den eigenen Gegenstand. Das Elfenbeinturm-Syndrom!

Die Deutsche Spielform der zeitgenössichen Musik ist die Neue Musik, deren erste verdienstvolle Generation sich inzwischen zum Sterben hingelegt hat, deren zweite Generation auch schon im Rentenalter ist und deren dritte Generation es schon nicht gar mehr gibt, da sie es weitgehend ablehnt mit diesem Begriff ettiketiert zu werden. Ganz zu schweigen von den jüngsten Generationen der Elektroniker und Eklektiker unter den Komponisten und Musikern, die sich inzwischen gerne auch soundscaper und engeneers nennen und mit der „alten Neuen Musik" überhaupt nichts am Hut haben.

Die Neue Musik, sei sie nun inzwischen alt oder nicht, hat formal musikalisch vieles aufgebrochen, gesellschaftlich kritisch ist sie eher nicht und allzu oft bis heute verschlossen in hermetischen Publikumskreisen.

Und wenn ich mir die Riten der Präsentation Neuer Musik anschaue, dann erlebe ich, dass sich diese auch darin allzu oft nicht um ein bisschen von den steifen, freudlosen Präsentationsformen unterscheiden, die mir schon in meiner Kindheit als gemeine Quälerei erschienen, wenn ich meine Eltern um meiner kulturellen Bildung willen in mir endlos erscheinende Konzerte begleiten musste. Da hat sich in 50 Jahren an schwarz-weiß gekleideter Steifheit wenig geändert und doch bezeichnet sich diese Genre seit Jahrzehnten als gleichbleibend neu – was natürlich auch ein Widerspruch in sich ist.

Sagen wir es ehrlich, meine Damen und Herren: da können wir für eine zeitgenössische Operette wenig lernen.

Also schauen wir doch mal, wie das die jüngere Schwester der Operette, das Musical macht. Die ist nach einem Auslandsaufenthalt in den USA gleich dort geblieben und erst nach vielen Jahren wie ein souveräner Onkel aus Amerika zu uns zurückgekommen. Da finden sich schon bei Gershwin und anderen sozialkritische Unterschichtsmillieus in den Tableaus, da wird gnadenlos und hedonistisch und eklektizistisch in den tatsächlich zeitgenössischen musikalischen Formen gewildert: im Jazz, im Pop, im Rock, manchmal auch geplündert, aber meist außerordentlich kreativ, mitreißend und gelegentlich bahnbrechend. Da könnte, da müsste Operette lernen, wenn sie denn zeitgenössischer werden will, die Kostüme und die Melodien des 19 Jahrhunderts zur Abwechslung mal beiseite legen und in der Jetzt-Zeit ankommen möchte. Das wär’ doch mal was! Ist Operette mit HipHop, Arbeitslosenproblematik und Migrantenthemen undenkbar? Könnten Porgy und Bess nicht in Neukölln wiedergeboren werden und singen was das Zeug hält? Und wer weiß, das Publikum findet’s sogar toll? Da kriegen sie auch mich noch als Abonnenten.

Wenn wir über zeitgenössische Operette reden, kommen wir nicht darum herum, uns auch mit den unseligen Begriffen von U und E zu verständigen: U wie Unterhaltung, E wie Ernsthaft, U wie buuh und E wie elitär (um dieses von mir wirklich gehasste Wort auch mal zu nutzen).

Und da lohnt denn auch ein Blick auf meine Helden: die Rock- und Popmusik. Keine Kunstform hat sich nach dem zweiten Welt-krieg auf so fundamentale Weise mit der tiefgreifendsten gesellschaftlich Veränderung, Neuorientierung für Demokratie und Toleranz, der Veränderung von Stilempfinden, Kommunikations- und Gesellungsformen, Grundwerten, Sexualverhalten und Politikverständnis verbunden. Und das in einem vielfältig dialektischen Verhältnis als Ursache, Medium und Resultat zugleich. Und das ganze ist U. Da stehen den Vertretern von E die Haare zu Berge und sie wenden sich gerne ab. Wollen es besser nicht wissen oder einfach nicht wahr haben: es ist die Rock- und Pomusik, sicher auch noch ihre Vorläufer in Jazz und Bebop, die mit den tiefgreifendsten gesellschaftlichen Veränderungen der zweiten Hälfte des 20, Jahrhunderts verbunden sind – U-Musik, nicht E-Musik, U-Kultur, nicht E-Kultur. Das gibt zu denken, sollte es zumindest. Denn – nicht wahr? – soziale und gesellschaftlichen Veränderungen sind doch etwas sehr Ernsthaftes, da geht’s um Grundwerte, um Demokratie, um Formen des Zusammenlebens und der Identität – das hat doch nicht mits Unterhaltung zu tun.

Wie stehts mit diesbezüglich mit der E-Kultur? Das Theater sprang schnell mit auf den schon rollenden Zug der gesellschaft-lichen Veränderungen. Die ältere Tante, die Oper kam da erst mal gar nicht mit und die zeitgenössische Musik stand wie ein verquaster Klassenprimus daneben, der im wirklichen Leben nicht zurecht kam (John Cage ist ohne Maurizio Kagel schon denkbar – ohne John Lennon eher nicht). Die Musical-Schwester, die es schon immer wusste und seit jeher mit dem Jazz geflirtet hat, war wie der Mecklenburgische Igel „all dor“. Und die Operette, leichtfertig und unterhaltsam, wie sie ist und sein möchte und sein darf, möchte nun auch ein bisschen ernst genommen werden. Aber wir wissen schon – zumindest in Deutschland sind die Dinge klar und eindeutig: entweder U oder E – unterhaltsam oder ernst.

Und das ist Unsinn: denn wir lernen aus der Musikgeschichte des letzten halben Jahrhunderts, dass die ernsthaftesten gesellschaftlichen Auswirkungen aus der verpönten U-Musik kommen und dass die lächerlichsten politische Marginalisierungen in vielen Bereichen der E-Musik stattfinden.

Für die Operette kann das bedeuten, im Unterhaltsamen bleiben, aber die Stoffe und Stile der Gegenwart ausloten, die Grenzen – zu Musical, Rock-Oper und street-noise weniger ernst zu nehmen, darüber hinaus gehen. Und da liegt auch ein Potential für den Austausch zwischen Operette und Hellerau – zwischen neuer Operette und zeitgenössischem Musiktheater in Hellerau. Das wäre sicher ein spannender cross-over, ein innerstädtischer kultureller Brückenschlag, mit dem wir weit über die Stadt hinaus überraschen könnten.

An mir soll’s nicht liegen. In Wirklichkeit arbeiten wir ja zum Erstaunen vieler schon daran. Und das Erstaunen, das Überraschen ist sicher etwas, woran Operette und Hellerau beide gerne arbeiten.

Dieter Jaenicke