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Zwei Frauen, zwei Schicksale. Zwei Männer, zwei Versager: „Rusalka“ und „Carmen“ führen ins Abwasser und nach Cuba

Ein Dresdner in Riga: Für »Musik in Dresden« berichtet Boris Michael Gruhl vom 11. Rigaer Opernfestival.

Aira Rurane – Rusalka (Fotos: Gunars Janaitis)

Mutig ist man ja in Riga am Opernhaus, dem weißen

Prachtbau inmitten des Stadtparks. Mit der Übernahme der Direktion durch Andrejs Zagars, der zuvor als Filmheld ausgesprochen gut ankam, setzte sich eine ästhetische Erneuerung durch, die vom Publikum angenommen wird und ein Maß findet zwischen Experiment und zeitgemäß präsentierter Tradition. Irrtümer und Fehlkalkulationen sind eingeschlossen und nicht zuletzt Belege für Risikobereitschaft, etwa eine Inszenierung wie die der Oper „Rusalka“ von Antonin Dvorak einem jungen Regisseur als erste Opernproduktion überhaupt anzuvertrauen.

Mut auf beiden Seiten. Das Ergebnis ist in szenischer Hinsicht problematisch. Verständlich, dass der dreißigjährige Regisseur Johannes Gleim kein Stück im romantischen Märchenwald, mit Nixen am Weiher und Hochzeit im Schloss mit Strumpfhosengesellschaft inszenieren wollte. Um aktuell zu sein und Gegenwartsbezüge herzstellen, tappt er jedoch unaufhaltsam in alle Pfützen und Fettnäpfe deutschen Regietheaters. Das tut er im Verein mit seiner fast ebenso jungen Ausstatterin Daniela Juckel, die den ersten Teil des nun ja tatsächlich romantischen Undinestoffes in einen Abwasserkanal verlegt, den zweiten in die Clubatmosphäre kalter Bunkerarchitektur mit klotzigen Ledersofas und beleuchteten Aquarien als Schloss von heute, um dann im dritten Bild beide Welten, die feuchte und die kalte, zu mischen. Das ist dann leider nicht Fisch und nicht Fleisch, zumal es nicht gelingt, die Akteure aus ihren Opernhaltungen zu lösen und die Kostüme, zwar ohne Fischschwanz bei Rusalka und Strumpfhosen beim Prinzen, doch mit Glitzer bei den Wasserwesen etwa, willig die Klischees bedienen.

Es bleibt bei redlichen Absichten. Einen Chor zu bewegen ist für einen Anfänger eine enorme Herausforderung, aber der Modefalle, aus der Hochzeitsgesellschaft eine neureiche pelzbehängte Saufgesellschaft mit Koks und Strip und Sex zu machen, hätten Regisseur und Ausstatterin mit mehr Fantasie, Ironie und Witz, vor allem Zutrauen ins Werk und seine Zuschauer, entgehen können.

Rusalka, die in Trüben lebt und aus den Abfällen der Menschen, die ins Wasser fallen, ihre Träume von jener Menschenwelt den aus versenkten Hochglanzmagazinen nährt, will hoch ins Licht. Wahrscheinlich hat sie ihren Prinzen bisher auch nur in so einem feuchten Magazin gesehen. Die Wirklichkeit ist immer anders. Der gute Wassermann, prächtig gesungen von Krisjanis Norvelis, warnt. Die Hexe hingegen (Ilona Bagele) erfüllt dem Wasserkind den Erdenwunsch um den Preis dass es stumm bleibt und darauf vertraut, dass man bei den Menschen die Sprache des Herzens versteht. Die Rechnung geht nicht auf. Der Prinz trifft sie tatsächlich bei der Jagd, aber zieht dann doch die von Natalija Kreslina energisch gesungene Fremde Fürstin der stummen Rusalka vor. Schade dass er nicht gehört hat, wie sie im Wasser noch den Mond besungen hat: das ging zu Herzen.

In Riga hat man mit Aira Rurane eine wunderbar singende Rusalka. Lyrische Dramatik, sichere und strahlende Höhen, dazu sehr direkte Eleganz des Ausdrucks. Der Prinz ist Aleksandrs Antonenko. Inzwischen zuhause auf den Opernbühnen der Welt, wohin viele Sängerinnen und Sänger von Riga aus gezogen sind. Nicht nur zur Festspielzeit aber kehren sie zurück, an die Stätte des Anfangs und der frühen Erfolge. Dann stehen auch die Vasen und Gläser in den Gängen an den Türen zum Parkett bereit, für die Blumen, denn das Rigaer Publikum dankt seinen Sängern die Treue auf sehr schöne Art.

Antonenko hat als Prinz in „Rusalka“ sein Rollendebüt. Er geht es vorsichtig an. Er findet den romantischen Ton des einsamen Jägers, der eine falsche und daher tödliche Entscheidung fällt, der Gesamteindruck aber bleibt etwas indifferent, zu unentschieden, auch in der Haltung. Ganz direkt hingegen das Dirigat von Martins Ozolins: Romantik ja, aber keine Sentimentalität, Stimmungsbilder auch, aber dann sehr klar und gut strukturiert. Es schmettert mitunter ganz schön am Kanal im Wald am Stadtrand, aber es geht ja auch ganz und gar nicht gut aus unterm blassen Mond in trüben Wassern.

Carmen auf Cuba…

Einen Tag später steht Tadeusz Wojciechowski am Pult des Orchesters der Lettischen Nationaloper. Nach Wagner und Dvorak jetzt Bizet, „Carmen“, das Stück mit den Ohrwürmern. Schon im ersten wunschkonzertbeliebten Vorspiel lässt der Dirigent verstörend exakt aufspielen, dass die ewigen Mitsinger und Taktklopfer im Saal den Mund schließen und die Beine still halten. Der musikalische Bruch nach der Quadrille zum schneidenden Schicksalsmotiv lässt unmissverständlich vernehmen: es geht ums Leben, Sterben eingeschlossen. Die musikalische Stringenz behält der Dirigent bei. Bei zwei Pausen steigt die Spannung, musikalisch ist der dritte Akt der konzentrierteste.
Aleksandrs Antonenko, jüngst auch in Leipzig als des Grieux, beim vorerst letzten Operndirigat von Maestro Riccardo Chailly zu erleben, singt und spielt Don José. Heute nur José, denn – wiederum eine Aktalisierung des Stoffes – George Bizets Oper „Carmen“ spielt auf Kuba, unter blauem Himmel und Fidels wachendem Blick. Ist man bereit, die entsprechenden Veränderungen zu akzeptieren, dann erlebt man einen spannenden und vor allem sehr menschlichen Opernabend, besser noch ein Musiktheater in der Idylle einer Mangelgesellschaft, die sich jeder mit seinen eigenen Sehnsüchten, Träumen und kleinen Tricks, erträglicher zu machen sucht.

Rigas Opernchef, jetzt als Regisseur, erzählt Geschichten kleiner Leute, uriger Arbeiterinnen, bräsiger Soldaten, Nichtstuer und Herumsteher, Martí-pioniere und solcher, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um mit unsicheren Gefährten durch die Karibik zu schippern, an die Strände der Freiheit um die billigen Brosamen von deren Tischen mitzubringen, oder gleich ganz dort zu bleiben, sofern man überhaupt eine der beiden Küsten erreicht.

Die andere Möglichkeit herauszukommen, oder irgendwie hinzukommen, heißt den sicheren Posten bei der Armee zu bekommen, ein Spitzensportler zu werden, oder, was allen bleibt, ein Lebenskünstler zu werden. Alle treffen sich in der Bar namens Sevilla bei Lillias Pastia, und sind hin und weg wenn ihr Idol, Escamillo vorbei kommt. Der ist hier auch kein Stierkämpfer, sondern ein Boxer, hat sich hochgeboxt und nicht vergessen, wo er herkommt. Carmen ist eine einfache Frau, eine Arbeiterikone unterm grauen Kittel, den sie rasch ablegt, Lebenskünstlerin mit kleinen Ansprüchen.

José, der Soldat, hat auch einen Traum. Er hat ein Motorrad. Das ist sein Schatz. Die kleine zarte Micaela, die Krankenschwester, unterwegs auf dem verbeulten Fahrrad, die wird er heiraten, und dann Zeit haben für den Schatz auf drei Rädern, die Beiwagenmaschine. Für den großen Kindskopf ist die Welt eigentlich in Ordnung, Fidel wacht, zu kämpfen gibt’s nichts, mit der Kleinen, das geht klar. Aber wenn bei so einem die Sicherungen durchbrennen, wenn so ein Leben aus dem Lot kommt, dann Gnade ihm Gott und denen, die er dafür verantwortlich macht. Vor den wunderbaren Prospekten nach großartigen Fotos aus Kuba der Ausstatterin Monika Pormale erzählt diese Inszenierung die Geschichte zweier Menschen deren zufällige Begegnung zum Beginn einer Katastrophe wird, weil zwei unvereinbare Lebensentwürfe aufeinandertreffen. Weil José Ordnung und Besitzanspruch für Liebe hält und Carmen ein absichtlich missverständliches Spiel mit dem „Vielleicht“ für eine Variante der Freiheit.

In Riga wird Bizets Fassung der Oper mit gesprochenen Dialogen gespielt, die menschliche Fassung, mit der Musik als Projektionsraum, in der sich jede der Personen ihre Welt ersingt. Zwischen Carmen und José kann es kein richtiges Duett geben, die Auseinandersetzung am Schluss, aufgehetzt von Josés Angst, allein zu bleiben, auf diesem großen Platz vor dem Stadion, in dem die Massen Escamillo, dem Boxer, zujubeln. Auf diesen Moment hin hat Zagras das Stück inszeniert. Was mit einem zufälligen Aufeinandertreffen zweier Menschen beginnt, endet da, wo einer dem anderen auflauert. José ist kein Mörder aus Vorsatz. Eine abgeschlagene Flasche rammt er Carmen in den Hals, Blut muss fließen, ein Opfer, nur keine Erlösung.

Aleksanders Antonenko (José) ist wirklich grandios, auch im Spiel, vor allem aber im Gesang, vom sicher klingenden Piano bis in die festen strahlenden Höhen. Eine schöne Überraschung bietet Asmik Grigorjan als Micaela, Egils Silins ist vom Typ her der Meisterboxer mit der harten Faust und dem weichen Herzen, Ekaterina Egorova hat die dunkle Mezzosspranstimme mit ausreichendem Volumen und Gestaltungsraum für die Titelpartie. Dazu in allen weiteren Partien ein rundum tollen Ensemble mit Chor und Kinderchor der Rigaer Domchorschule.

So endet ein großer Opernabend, der zwischendurch immer mal in nicht sehr exakten Auftritten von Chor und Statisterie zum Operngewusel abzudriften droht, dessen Einfärbungen der Akteure zu Kubanern und Kubanerinnen samt deren Perücken zu unfreiwilligen Karikaturen in die Beschwörung sozialistischer Idyllen führen könnte, vor allem ob seiner musikalischen Kraft sehr beeindruckend.