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„Der Moment wird Erinnerung“

Bereits von zwei Jahren fragte mich Christiane Büttig, die Leiterin des Dresdner Universitätschores, ob ich Lust hätte, ein Stück für das Chorensemble zu schreiben. Nach längerer Vorplanung entschieden wir uns, das neue Stück im Sommer dieses Jahres zu präsentieren – es wird nun am 4. Juli beim Konzert des Chores in der Versöhnungskirche uraufgeführt. Als Werkstatttext für Besucher oder Interessierte seien hier einige Zeilen zu dieser neuen Komposition niedergeschrieben.

Es gibt Phasen im Leben, bei denen schmerzhafte und freudige Ereignisse nah beieinander liegen. Im Extremfall geschieht so etwas an einem einzigen Tag und erzeugt große Irritation. Mit solchen Ereignissen müssen wir umgehen, sie verarbeiten, damit fertigwerden. Die Verarbeitung schließt die Wahrnehmung, Betrachtung und Bewertung ein, und natürlich auch die verschiedensten Gefühlswelten, die sich spontan einstellen. Die Parallelität solcher Ereignisse, ob sie sich in der Gesellschaft oder im Mikrokosmos etwa der eigenen Lebensumgebung abspielen, kann – künstlerisch betrachtet – zu dynamischen Prozessen führen. Es entstehen starke Kontraste, Gegensatzpaare oder gar absurde Situationen, Dinge können sich vervielfachen oder auch gegenseitig aufheben.

In „Statements“ widme ich mich diesem lebensnatürlichen, beim Auftreten auch verstörenden Phänomen. Unvergleichlich hat der Schriftsteller Charles Dickens die verschiedenen Perspektiven, Gefühle und Gedanken, die man auf ein und dieselbe Sache richten kann, zu Beginn seines Romans „A Tale of two Cities“ eingefangen. Das war der Ausgangspunkt der Komposition; der Vorgang der Standpunkteinnahme und damit der Titel des Stückes ist mit diesem Text stark verbunden, dessen erste Zeilen „It was the good of times, it was the worst of times“ als Literaturzitat heute bekannter sind als der Roman, dem es entstammt. Dabei ist die Liebesgeschichte zu Zeiten der französischen Revolution durchaus lesenswert und wurde als Ganzes als Oper (Arthur Benjamin, 1950) und als Musical bereits vertont (Jill Santoriello, 2008).

Die Reihenfolge im Stück war zunächst unbekannt, erst nachdem Rilke und van Hoddis als weitere „Statements“ hinzutraten, rückte Dickens an die finale Stelle, damit Zusammenhang stiftend. Trotzdem sind die Sätze sowohl in ihrer individuellen Aussage als auch in der von mir vorgenommenen Folge verstehbar – auch dieses Verstehen ist somit „dickensisch“. Rilkes neunte „Duineser Elegie“ erscheint als erster Satz der Komposition. Sie wurde ausgewählt, da so eine thematische Klammer zu dem Rautavaara-Stück mit der ersten Elegie entsteht. Diese Elegie  zeigt im Gegensatz zu Dickens eine andere – lyrische – Perspektive auf das Leben: hier ist es die Einmaligkeit eines jeden Ereignisses, das Aufmerksamkeit verlangt. Das „Hiersein“ im Leben wird unabdingbar eingefordert. Der Expressionist Jakob van Hoddis, der in seinem berühmten Gedicht Weltende  „Eisenbahnen von den Brücken“ fallen ließ, ist als aufrührerischer Mittelsmann vertreten, als notwendiges Gegengewicht zu Poesie und transzendentem Realismus, und zwar in dem Sinne, wie sich die Geigerin Patricia Kopatchinskaya jüngst äußerte: „Life ist structure AND chaos“ – beide Teile gehören dazu. Leben und Lebendigkeit äußert sich eben nicht (nur) in der geraden Linie, sondern auch in den Abweichungen, im Stolpern, am Rand, in der Höhe und in der Tiefe.

Die künstlerische Arbeit mit Rilke im 1. Satz war keinesfalls von bravem Hinterherkomponieren bestimmt, barg doch der Text für mich einiges an Konflikt- oder Widerspruchspotenzial. Rilke ist eine existenzielle Stimme unter vielen, die zur Vertonung zwar keine komplette Identifikation erfordert, aber doch vor allem ein Greifen, ein Packen des Textes, um den musikalischen Sinn einer Vertonung überhaupt erst herzustellen. Daher mischt sich hier zweimal der portugiesische Dichter Fernando Pessoa als lyrischer Gegenpart ein, zunächst, um für „dieses Schwindende, das seltsam uns angeht“ einen Kontext zu bilden, dann, um Rilkes Vision eines „vertraulichen Todes“ nicht unwidersprochen stehen zu lassen. – Ausgerechnet der Pessoa, der eigentlich (Standpunkt-Wechsel) in seiner Hilfsbuchhalteridentität ideal dazu geeignet wäre, Rilke noch den letzten Hoffnungsschimmer eines Sinns im Leben zu vermiesen. Manchmal ist es ganz ratsam, sich die Protagonisten einer Komposition am späten Abend in einer Taverne vorzustellen, heftig diskutierend mit schwerem Wein…

Vier Dichter treffen aufeinander – sie könnten im Sinne von Dickens (It was the best of times – it was the worst of times) zu einem Quartett verwoben werden, ich habe mich dennoch nicht zu einer Collagierung entschlossen, da die Stimmen gehört werden wollen. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Stückes ist die Einmaligkeit der Aussage – bewusst habe ich in diesen Chorstücken kaum Wiederholungen und wenige Entwicklungen im klassischen Sinne komponiert. Einmal Geäußertes gilt. Eine Wiederholung ist – ad nauseam – eine Lüge, und würde der poetischen Kraft des Gesagten widersprechen. Die Einmaligkeit wird in der Musik wiederum zur Vergänglichkeit, der Moment wird Erinnerung. Das gilt auch für die Orchesterbehandlung, die eine stumme beziehungsweise textlose weitere Ebene im Stück bildet. Nur von Hoddis benötigt diese Ebene nicht, er darf „alleine auf die Bühne“ – das Stück wird a cappella gesungen. Im Grunde sind alle drei Sätze simpel ein Einhauchen von Gegenwart, ein Konzentrat, ein Angriffspunkt und eine Liebeserklärung an die Lyrik, hinter der, ganz dicht, Utopien, Visionen und Träume stehen. Und selbstverständlich stehen Statements stets im Raum, sie verlangen ein Weiterdenken und eine Beschäftigung – nicht nur in der Kontextualisierung mit den anderen Werken des Konzertes, sondern auch im Nachhall des Zuhörers.