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Tischtennis mit Nils Mönkemeyer

Bravi, Trampeln, heimliche Tränen: Das Moritzburg Festival bewegt… (Foto: René Gaens)

"Wenn es ein Paradies gibt, so muss es dem Sommer in Moritzburg sehr ähnlich sein." Wer hätte so träumerische Worte von einem Intendanten erwartet? Seit zehn Jahren leitet der Cellist Jan Vogler das Moritzburg-Festival in alleiniger künstlerischer Verantwortung. Gemeinsam mit seinem Bruder Kai und dem Cellisten Peter Bruns hatte er das Festival 1993 ins Leben gerufen. Alle drei Musiker waren zu dieser Zeit Solisten der Staatskapelle Dresden und hatten mehrfach am renommierten »Marlboro Festival« in den USA teilgenommen. Ähnliches schwebte ihnen nun in der kleinen Gemeinde nordwestlich von Dresden vor: das idyllische, von Karpfenteichen umgebene Jagdschloss Moritzburg sollte Hauptspielstätte eines kleinen, illustren Kammermusiktreffs werden.

Vieles hat sich seitdem verändert. Peter Bruns und Jan Vogler haben erfolgreiche Solo-Karrieren eingeschlagen, die sie rund ums Jahr um den Globus führen. Während Bruns als Professor in Leipzig lehrt, wurde Vogler die Intendanz der Dresdner Musikfestspiele angetragen. Mit der Gründung der Moritzburg Festival-Akademie, einem inzwischen weltweit bekannten Sommerkurs für vierzig Nachwuchsmusiker, die nicht zuletzt als ausgewachsenes Sinfonieorchester gemeinsam konzertieren, braucht das Moritzburg-Festival größere Spielstätten, und fand sie in der nahen Landeshauptstadt. Auch außerhalb der Festivalwoche gastieren die eingeladenen Künstler nun auf Kreuzfahrtschiffen oder internationalen Tourneen. Und neben ihren Lebensläufen werden heutzutage auch die Biografien dreier Meisterköche im Programmheft abgedruckt, die ausgewählte Konzertabende mit kulinarischen Köstlichkeiten abrunden; dazu wird eine eigens in Sachsen angebaute und kreierte "Festival-Cuvée" geschlürft.

Auf der anderen Seite hat sich das Festival viel von der herzlichen, familiären Atmosphäre der Anfangsjahre bewahren können. Ein inzwischen aus aller Welt anreisendes Publikum weiß das zu schätzen, schwatzt mit diesem oder jenem Künstler im Anschluss an das Konzert bei Wein und Hirschbraten, oder schaut gar bei den Proben in der "Churfürstlichen Waldschänke" vorbei. In Voglers Worten: "Bei intensiven Proben, beim gemeinsamen Essen, beim Tischtennis oder bei Fahrradtouren entlang der Ufer der Seen lernen wir uns kennen und werden Freunde…" Diese außermusikalischen Freundschaften schlagen sich – und das ist vielleicht das Geheimnis dieses Festivals – eben auch hörbar in den Konzerten nieder. Die energiegeladenen Interpretationen, die die Musiker gemeinsam so organisch aus dem Moment erblühen lassen, und die im Rückblick doch so perfekt, so hermetisch gerundet scheinen, verleiten das eigentlich sehr disziplinierte Publikum in der kleinen Moritzburger Kirche oder im Speisesaal des Schlosses regelmäßig zu Bravoschreien, zu ungestümem Trampeln, und manchmal – darf das ein abgeklärter Rezensent gestehen? – zu heimlichen Tränen.

Künstler wie Isabelle Faust, Janine Jansen, Baiba Skride oder Frank Peter Zimmermann haben in den vergangenen Jahren den Weg nach Moritzburg gefunden. David Aaron Carpenter, Sol Gabetta, Daniel Müller-Schott oder Heinrich Schiff waren hier; Lise de la Salle, Hélène Grimaud und Martin Stadtfeld schauten vorbei. Aber auch ganz junge, andernorts noch unbekannte Talente finden hier Gleichgesinnte, Kammermusikpartner, Freunde und Förderer.
In diesem Jahr war der Blick der Musiker nach England gerichtet. Byrd, Purcell, Britten waren Schwerpunkte gewidmet. Dem in Großbritannien recht bekannten Komponisten Torsten Rasch – einem Dresdner – wurde die Komponistenresidenz angetragen, seine teilweise recht sperrigen Werke fanden hier konzentrierte Hörerschaft.

Vielleicht der Höhepunkt der Moritzburg-Saison war ein Konzertabend, der mit einem Portrait der Geigerin Mira Wang begann und sich dann über Brahms (Ausführende: eine technisch superexakt, aber nicht blutleer intonierende Nicola Benedetti, Jan Vogler und ein brilliant über allen pianistischen Herausforderungen schwebender Andreas Haefliger), Torsten Raschs Streichquartett Nr. 1 aus dem Jahr 2009, Haydns "Zigeunertrio" bis zu Dvoráks Streichsextett A-Dur o. 48 streckte (Philippe Quint, Chun-Wen Huang, Max Mandel, Nils Mönkemeyer, Danjulo Ishizaka und Eric Han). Echt "moritzburgisch", wie sich da den Zuhörern im ausverkauften, mit ungewöhnlichen Rothirschgeweihen ausgeschmückten "Monströsitätensaal" des Schlosses nebenbei ein beispielloses Wetterschauspiel mit gleißendem Blitz und krachendem Donner bot, das den Ausdruck der leidenschaftlich durchlebten Werke noch zu intensivieren schien.

Um die Lobhudelei nun nicht ausarten zu lassen: auch im Paradies wird der ein oder andere saure Apfel gepflückt. Schier endlose Abende gemeinsamen Musizierens fordern hin und wieder auch ihren Tribut, was sich zuletzt etwa bei der Pianistin Alice Sara Ott durch Konzentrationsschwächen und folglich Flüchtigkeitsfehler bemerkbar machte (unangefochten dagegen auch dieses Jahr dagegen ihr finnischer Kollege Antti Siirala, traumwandlerisch sicher durch alle Stile und Werke – toll!). Und: viele der Werke Purcells krankten an stilistischen Unsicherheiten der Solisten – ohne Alte-Musik-Experten wohl kein Wunder. Wen das nicht abhält, sich 2012 mit eigenen Ohren ein Urteil zu bilden, der sei zuletzt auf die Auslastungszahlen des Moritzburg-Festivals verwiesen. Sie liegen seit Jahren nahe der Hundert-Prozent-Marke.

zuerst erschienen in: das Orchester 10/2011
Mit Genehmigung der SCHOTT MUSIC GmbH & Co. KG, Mainz – Germany