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Viele kleine Sensationen

Foto: E. Klemm

Das Wort Sensation kommt vom lateinischen sensatus und hat etwas mit „empfinden“ zu tun: Somit ist es immer auch eine sehr subjektive Einschätzung, von Sensationen zu sprechen. Wenn – wie in diesem Fall – mehrere Dinge zusammenkommen, die jede für sich genommen bereits sensationellen Charakter tragen, ist der Hörer und Zuschauer geneigt, das Subjektive ins Objektive zu heben. Die Gründe sind vielfältig!

Seit 25 Jahren inspiriert Sinfonietta Dresden mit kontrastreichen und avancierten Programmen das Konzertleben der Landeshauptstadt und der ganzen Region. Die Anfänge des Meetingpoints Messiaen hat das Orchester mit Engagement und vielen Benefizkonzerten unterstützt. Ganze Konzertreihen (wie die »Spiegelungen« mit Werken von Haydn, Uraufführungen und neuen Werken von den Rändern Europas) erklangen in der Görlitzer Synagoge, im Meetingpoint selbst, in der Annenkapelle oder in Sporthallen. Es hat eine Folgerichtigkeit, dass die Eröffnung der dritten Messiaen-Tage – deren Programm und Existenz an sich schon eine Sensation sind – der Sinfonietta Dresden übertragen wurde.

Sensationell auch die Programmdramaturgie: Drei avancierte neue und neueste Stücke wurden exemplarischen Werken des 20. Jahrhunderts entgegengestellt, die viel zu selten live zu hören sind und ihrerseits weit ins 21. Jahrhundert verweisen. Mehr als die Hälfte des Programmes kommt dabei aus der Feder zweier Komponistinnen – auch dies eine kleine Sensation, steht doch das Schaffen von Frauen in der Musik noch immer viel zu sehr im Schatten der dominierenden Männerwelt. Wie sich Carola Bauckholt in ihrem Bläserquintett »Zugvögel« einerseits an Naturgeräuschen orientiert, daraus aber ein völlig autarkes und absolutes Stück Musik formt, war bewundernswert.

Den Rahmen des mit dem Motto »Naturklang – Klangnatur« überschriebenen Abends bildeten zwei Werke von Karoline Schulz, die gemeinsam mit dem Flötisten Olaf Georgi auch durch das Programm führte. Die Dresdner Komponistin und Schülerin von Jörg Herchet gehört zu den furcht- und kompromisslosen Vertreterinnen einer avancierten Tonsprache. Dabei versteckt sie sich nicht hinter Vorbildern oder formelhaften Gesten, sondern lässt das groß besetzte Kammerorchester mutig im ganzen Raum aufspielen. Bestechend die Mikrotonalität und der enthusiastische Schwung des Stückes von 2007 (»Im Überschwang des Raumes«) mit unterschiedlich gestimmten Orchesterteilen, die in den Raum expandieren, den Zuhörer umfangen und in die Mitte nehmen. In Wind erscheint ein ähnliches Herangehen feiner austariert, sehr sensibel, aber nicht weniger ansteckend. Karoline Schulz bekennt sich auch in der Uraufführung zum vollen Orchestersound mit seinen modernen Möglichkeiten. Windgeräusche vom Band eröffnen und beschließen das neue Werk – fast wird der autonome Charakter der Musik dadurch etwas ins Illustrative gehoben, aber diese Empfindung mag sehr subjektiv sein. Deutlich wird dadurch nicht zuletzt, dass für die Komponistin die Natur im Mittelpunkt steht und aus ihr auch die Klänge erwachsen. Konsequenterweise hat sie das Stück den Aktivist*innen des Hambacher Forstes gewidmet und auf das biblische Bild des Elia verwiesen, dem Gott nicht im Sturm, nicht im Feuer, sondern im leichten Säuseln begegnet.

Sensationell war ebenso das Erleben eines Streicherstückes des italienischen Komponisten Giacinto Scelsi. Sein »natura renovatur« aus dem Jahr 1967 ist Avantgarde pur und entfaltet einen Sog, der ähnliche Ansätze aus der Zeit – etwa von Ligeti (»Ramifications«) oder Lutosławski (»Präludien und Fuge«) – in Erinnerung ruft und gleichzeitig auf die inspirierende Kraft Scelsis verweist, der bereits in den 60-er Jahren zu Klängen aufbrach, die gleichermaßen neu wie sinnlich überwältigend waren und heute mehr denn je sind! Das Stück fegt wie ein Sturm über seine Hörerinnen und Hörer hinweg und hinterlässt Erstaunen über die Tatsache, dass Scelsi gefühlt noch immer so im Hintergrund steht gegenüber Nono, Dallapiccola oder Maderna.

Schließlich Olivier Messiaen mit seinen »Oiseaux exotiques« von 1956, jenem atemberaubenden Konzert für Klavier und Ensemble über ca. 50 exotische Vogelstimmen, die in natura niemals gleichzeitig erklingen könnten, weil sie ihre Stimmen normalerweise in Indien, Indonesien oder Südamerika erheben. Messiaen – der Naturbewunderer, tief gläubige Synästhetiker und inspirierende Lehrer, der von Boulez über Stockhausen bis Theodorakis und Xenakis viele bedeutende Komponisten des 20. Jahrhunderts spirituell wie intellektuell ‚angesteckt‘ hat – schuf mit diesem Werk ein exemplarisches Stück Musik, das mühelos auch über die Hürden eines den neuen Klängen skeptisch gegenüber stehenden Publikums springt, umso mehr, wenn sie derart professionell, sensibel wie energisch überzeugend dargeboten werden wir im Spiel des Solisten Emre Elivar, aus Ankara stammend und Schüler u. a. auch von Peter Rösel, bei dem er in Dresden 1999 sein Aufbaustudium abschloss. Seither gastiert Elivar weltweit und unterrichtet in der HfM Hanns Eisler in Berlin.

Sensationell, wie in der angeblichen ‚Provinz‘ am Rande und im äußersten Osten Deutschlands nicht nur ein solches Konzert präsentiert wird, sondern auch, dass eine ausverkaufte Annenkapelle ein aufgeschlossenes und dankbares Publikum erlebt, das jedem Stück seinen gebührenden Applaus gewährt und dabei den Solisten und die Komponistin der Uraufführung besonders feiert.

Wenn allerdings ein solch ambitioniertes Programm am Tag der ersten Probe krankheitsbedingt von einem anderen Dirigenten übernommen werden muss und dieser ein Student von 20 Jahren ist, der ohne Abstriche alle Werke einstudiert und dirigiert, ist das von den vielen Sensationen wohl die größte. Maximilian Otto, selbst Komponist, Pianist, Kontrabassist und Dirigierstudent im 1. Studienjahr, leitete mit staunenswerter Übersicht, dabei zurückhaltend und ohne Show dieses Mammutprogramm. Der Dank des Publikums wie des Orchesters war ihm gewiss – am Ende strahlten alle um die Wette.

Alle an inspirierter, enthusiastisch dargebotener avancierter Musik Interessierten sollten sich die Aufführungen im Schülerkonzert am 31. Januar 10.00 Uhr oder im Abendkonzert 19.30 Uhr im Dresdner Hygiene-Museum nicht entgehen lassen! Die Sinfonietta Dresden setzt mit diesem Konzert und ihren Initiativen ein Ausrufezeichen und einen Akzent, der musikgeschichtlich eines Tages ganz sicher an Bedeutung gewinnen und die Darbietungen des immer Gleichen überstrahlen wird.

 


PS: Der Schreiber dieser Zeilen mag durch persönliche Verbindungen zu den Ausführenden zu Überschwang neigen. Wenn aber weit über 80% aller Musikerinnen und Musiker auf dem Podium Absolventinnen und Absolventen der HfM Dresden sind und diese mit einer dort ausgebildeten Komponistin und einem dort studierenden Dirigenten derartig fulminante Akzente in der Region setzen, relativiert sich allerhand Kritik, die sich diese Hochschule oft über den Musiker-Nachwuchs anhören muss. Denjenigen, der an dieser Hochschule in der Arbeit mit dem Hochschulorchester, in der Dirigierklasse, in der Zusammenarbeit mit der Kompositionsklasse, dem Institut für Neue Musik und KlangNetz Dresden – nicht zuletzt durch viele Uraufführungen und eine Zeit auch als Rektor – an entscheidenden Stellen mitarbeiten durfte, macht ein solches Konzerterlebnis vor allem eins: glücklich. Ob er mit der Einstufung als Sensation übertrieben hat, mögen alle Skeptiker am 31. Januar überprüfen…