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Die Absicht verstellt den Blick

Fotos: Matthias Creutziger

Ein Gespenst schlich herum auf den Opernbühnen, das Gespenst des Regietheaters. Aber es ist matt geworden: die Regie hat sich verabschiedet. Geblieben ist das Theater der verschachtelten Ideen, das Theater der Konzepte, die immer toll klingen, wenn Regisseure oder Dramaturgen darüber vor der Aufführung sprechen, wenn die Regisseure in den Programmheften die Fragen ihrer Dramaturgen beantworten. Das klingt dann oft ganz vielsagend und schlüssig, aber davon ist nicht in jedem Falle viel in den Aufführungen zu sehen. Meine Neugier kann das dennoch nicht bremsen, denn die Überraschungen, die ich immer wieder erlebe, vorwiegend aber in der „Provinz“, an den kleineren Opernhäusern mit ihren Ensembles, wiegen die meisten Enttäuschungen auf. Zum Glück bleibt die Musik! Aber selbst, wenn es sich die Opernhäuser leisten und die gegenwärtigen Gesangsstars der Oberliga einkaufen können, muss man manchmal Abstriche machen. Denn das mag ja alles gut klingen, aber es sieht dann auch oftmals aus wie überall, wo das Geld vorhanden ist. Dazu kommt, dass man manche Sängerinnen und Sänger in manchen Partien auch überall, wo es entsprechend teuer ist, hören kann, und auch irgendwann weiß, wie sie es machen. Ob einem dabei dann immer das Hören und Sehen vergeht? Das wäre eine andere Frage. 

Aber zurück zum Regietheater. Der Begriff ist nicht glücklich, denn Theater – auch Musiktheater, also Oper – ohne Regie sollte es nicht geben. Regietheater-Gegner bringen ja immer schnell den Begriff der Werktreue ins Spiel und meinen wohl, man sollte die Opern so aufführen, wie sie zur Zeit ihrer Entstehung über die Bühne gegangen sind. Aber dabei wird dann schon mal leicht übersehen, dass auch diese Art der Interpretationen stark durch den Zeitgeist geprägt waren. Ich vergleiche hier immer gerne mit der Bildenden Kunst: Ein Gang durch die Galerie der Alten Meister zeigt ohne Wenn und Aber: es war immer schon so, dass die Künstler gerne ihre Motive aus der Geschichte, aus der Mythologie oder aus der Religion in ihre eigenen Zeiten hinein gemalt haben. Ich merke schon, der Vergleich hinkt etwas, aber er weist in die Richtung, um die es mir geht, wenn es um Operninszenierungen geht. Natürlich ist es komisch, und mitunter auch zum Lachen, wenn eine Sopranistin als Aida mit einem Wischeimer und einem trockenen Wischlappen ihre „Sklavendienste“ als Putzfrau absolviert und dann auch noch den trockenen Lappen auswringt. Ich glaube, es wird schnell komisch und steht den guten Absichten der dramaturgischen Aktualisierungskonzepte im Wege, wenn der nötige Abstand zum Heute fehlt. Ich glaube, man kann sehr gut die Themen der Gegenwart, die des Alltags, ja wenn man so will, die der Straße, auf die Bühne bringen, auch auf die Opernbühne, aber es besteht immer die Gefahr, dass man versucht, die Straßen und die Orte der Gegenwart eins zu eins abzubilden, was nicht selten in unfreiwillige Komik mündet. 

In Dresden hat einst Hans-Dieter Schal seinen Turm für die Elektra-Inszenierung von Ruth Berghaus gebaut. Für die einen war er eine Kommandozentrale, für andere ein Sprungturm; wieder andere meinten, die Kapitänsbrücke auf einem Schiff zu sehen. Auf jeden Fall ging für Elektra der Blick immer von dieser Erhöhung in die Ferne. Ihre Schwester Chrysothemis stieg mitunter noch höher und schien die erwartete Hilfe oder Erlösung auch nicht herankommen zu sehen. Es ging jetzt auch nicht darum, den Innenhof eines Königspalastes in Mykene nach dem Trojanischen Krieg, wie es im Text heißt, nachzubauen. Aber es ging um diese unglücklichen, wartenden und darüber grau gewordenen Menschen, die sich sowohl aus ihren familiären als auch aus ihren gesellschaftlichen Zwängen heraus sehnen. Ruth Berghaus sprach damals von der „Müdigkeit des Zwangs zur Rache“. Die Berghaus hat es vermocht, den Mythos wieder in den Alltag zu holen, aber ohne in falsch verstandener Regietheateremsigkeit den Alltag mit alltäglichen Verrichtungen auf die Bühne zu bringen. Wenn sie das tat, etwa in den Szenen der Mägde, dann in grandioser, choreografischer Genauigkeit. Hier stand die Absicht der Kunst nicht entgegen.

Hingegen verstellt in der aktuellen Opernproduktion »Simon Boccanegra« die Absicht zu oft den Durchblick auf die ohnehin nicht leicht zu durchschauende Handlung der Oper von Verdi. Denn hier, wo Verdi eines seiner Lebensthemen behandelt, nämlich das „Versagen der Väter“, wie es Eckhardt Henscheidt in seinem so launigen wie amüsanten Opernführer »Verdi ist der Mozart Wagners« beschreibt, und es zudem verdoppelt: „Weder der Vater (der Doge) noch der Großvater (Fiesco) blicken wenigstens soweit durch, dass Amelia ihre Tochter respektive Enkelin ist und von Rechts wegen Maria heißt…“ Wie soll da der Zuschauer durchsehen in dem verschachtelten Genua auf der Bühne von Christoph Hetzer in der Inszenierung von Jan Philipp Gloger? Gloger, der Regisseur, möchte offenbar drüber aufklären, dass private und politische Dinge sich verschränken, und dies in einem Zeitrum vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart. Dazu lässt er auch noch so gut wie alle Geister, Dämonen und Gespenster der Vergangenheit, die irgendwie angesprochen oder besser angesungen werden, als stumme Erscheinungen mitspielen.

Das alles ist ganz sicher gänzlich ehrenwerten und politisch ziemlich korrekten Absichten entsprungen. Nur ist es eben dermaßen absichtsvoll geraten, dass man den Eindruck bekommen kann, die Regie beschränkte sich nicht nur auf das Geschehen der Opernbühne; nein, sie will auch im Zuschauerraum ein wenig mitregieren. Da befindet er sich eigentlich in bester, antiker Gesellschaft, wo die Aufführung einer Tragödie als ein Prozess der Katharsis begriffen wurde, eine Reinigung des Denkens, des Fühlens, der Seele, durch die Anteilnahme am Schicksal der Unschuldigen Schuldigen. Ja, und auch da wurde etwas nachgeholfen: der Chor übernahm die Rolle der Interpreten, zumindest halfen die chorischen Kommentare dem Zuschauer auf den Weg.

Vielleicht zeigt diese aktuelle Dresdner Opernproduktion so etwas an wie den Versuch, in der Opernregie sich von allzu heftigen Regietheaterexzessen zu befreien, dadurch auch die Stimmen zu befreien, das Bild als Deutungshilfe zu nutzen, denn die „Stars“ bringen ja nicht nur ihre Gesangskunst, sondern auch ihr Haltungs- und Gestenrepertoire mit; für den Schauspielregisseur Gloger, nicht zuletzt geprägt durch das Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, sicher eine enorme Herausforderung. Die nächste wird kommen: in der neuen Saison ist in Dresden keine vorgesehen, aber aus Neugier reise ich ja gerne, und ich bin sicher, die Neugier wird´s richten und ich werde über eine der nächsten Regiearbeiten von Jan Philipp Gloger berichten. Man liest sich!