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Wunderbarer, zärtlicher Humor

»Faun« (Fotos: Martin Divíšek)

Keine Frage, ich fahre gerne nach Prag. Die Reise durchs Elbtal in den bequemen alten Zügen ist entspannend. Bei der Ankunft bin ich mitten in der Stadt. Kurz ist der Weg zur Staatsoper: nach einem Spaziergang über den Wenzelsplatz gelange ich zum historischen Ständetheater, in dem Mozart seinen »Don Giovanni« zur Uraufführung brachte. Gar nicht weit entfernt davon, dann an der Moldau gelegen, das Nationaltheater, „Die goldene Kapelle“, wie die alten Prager dieses Theater nannten. Davon weiß ich aus den Erinnerungen der Sängerin und Schauspielerin Sona Cervena „Heimweh verboten“. Die Cervena wird in diesem Jahr 90 Jahre alt, und im März wird sie letztmalig in der Rolle der 330 Jahre alten Sängerin Emilia Marty auf der Bühne des Ständetheaters stehen. Es handelt sich hierbei natürlich nicht um die Oper »Die Sache Makropulos« von Leoš Janáček, 1926 in Brünn uraufgeführt, sondern um das gleichnamige Theaterstück von Karel Čapek aus dem Jahre 1922, nach dem Janáček seine Oper schrieb. Kein Geringerer als der Theaterzauberer Robert Wilson hat dieses Stück für Sona Cervena am Ständetheater inszeniert. Seit der Premiere im November 2010 haben die Prager so etwas wie ein Kultstück daraus gemacht. Letzte Vorstellung, am 28. März, dann mehr dazu.

Jetzt, aktuell, zurück ins Nationaltheater. Der Anlass war ein Fest des Tanzes. »Les Ballet Bubeníček«: unter diesem Namen präsentierten die Zwillingsbrüder Otto und Jiří Bubeníček vier Choreografien. Dieses Label sollte man sich merken! Otto ist erster Solist bei John Neumeier in Hamburg, Jiří beim Dresdner Semperoper Ballett von Aaron S. Watkin. Dass sie als Tänzer weltweit Anerkennung erfahren, ist keine Frage, in letzter Zeit immer stärker als Duo gemeinsamer Choreografien, wobei Jiří Bubeníček stärker als Choreograf in Erscheinung tritt, Otto mehr als Verantwortlicher für die Szene und zudem mit seinen musikalischen Fähigkeiten als Komponist und Sounddesigner entscheidende Akzente setzt. Das (Tanz-)Glück ist vollkommen, wenn beide tanzen.

Dass man sie schwer unterscheiden kann, ist die eine Sache. Dass ihnen so wunderbarer, geradezu zärtlicher Humor eigen ist, bei aller Ernsthaftigkeit der Kreationen, macht sie gemeinsam einmalig. Jetzt haben sie in Prag des Publikum an zwei Abenden mit den vielen Facetten ihrer Kunst reichlich beschenkt und wurden dafür euphorisch gefeiert. Zunächst für mich ein wunderbares Wiedersehen. Der vierteilige Abend beginnt mit Jirí Bubeníceks »Le Souffle de l´esprit«, dem »Atemhauch der Seele«, geschaffen 2007 für das Zürcher Ballett. Erstmals sah ich diese Arbeit als Erstaufführung mit dem Ballett der Wiener Staatsoper, im Januar 2011, damals schrieb ich dazu in einer Rezension:

»Le Souffle de l’Esprit«

Aus Stille und Dunkel steigt zunächst Otto Bubeníceks elektronische Klangfläche „Angel´s Arrival“ auf. Jene Engel, deren Ankunft, stilles Verweilen und beinahe unmerklicher Abschied diesen so wunderbaren Fluss der Bewegungen begleiten, werden in etlichen Phasen der Durchleuchtung eines Bildes von Leonardo da Vinci sichtbar. Wie fotografische Erinnerung aus schwarz-grauen Tönen des Negativs und Übergängen in Nuancen der Farben setzt sich das Bild der zwei älteren Frauen zusammen, von denen eine gütig lächelt, die andere sanft in die Höhe weist, und der zwei Kinder, die sich an sie schmiegen. Im Tanz der zwei Solistinnen, drei Solisten und vier Paare zu Stücken von Johann Sebastian Bach, Roman Hofstetter und Johann Pachelbel, dominiert die Achtung vor der Musik. Umso erstaunlicher, wie es Bubenícek gelingt, in dieser kraftvollen Meditation über Abschied und Zuversicht, die dem Tanz eigene Höhensehnsucht und naturgegebene Erdenschwere in Beziehungen zu setzen. Im Finale zu Pachelbels „Kanon“ – auch im Dresdner Repertoire – im Trio der exzellenten Tänzer, atmet diese Arbeit genau jenen Geist der Freiheit, für dessen zeitgemäße Wirkung die Beherrschung neoklassischer Tugenden alles andere als hinderlich ist.
 
Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dass ich in Prag mit den Zwillingen und dem Dresdner Ausnahmetänzer Jón Vallejo ein grandioses Herrentrio erlebte, die Solistinnen Elena Vostrotina und Duosi Zhu, ebenfalls aus der Dresdner Kompanie kommen dazu, besser konnte die Einstimmung nicht sein. 
Mit einer assoziativen Variante zu Motiven aus Oscar Wildes Novelle »Das Bildnis des Dorian Gray« in einer bewusst improvisiert wirkenden Szenerie geht der fulminante Abend zu Ende. Ganz klar, das ist ein Anreiz für die tanzenden Zwillinge, dieses Thema von Bildern und Abbildern, von Spiegelungen und Verwechselungen, von Identitäten und deren Verlusten mit den Mitteln des Tanzes auszureizen. Mit Otto als Dorian Gray und Jiří Bubeníček als Maler, als Lord Henry und als „Bildnis“ des Dorian Gray, mit Raquél Martinez als Schauspielerin Sibyl Vane zu Musik von Keith Jarrett und Bruno Moretti ist dies eine gemeinsame Choreografie der Brüder, die sie ihrem Vater widmen. Erstmals war diese Kreation 2011 im tschechischen Renaissanceschloss Velke Losini zu sehen, darauf in Kopenhagen und in Tokyo. Eine Dresdner Aufführung steht noch aus.

»Faun«

Zur Uraufführung kam 2012 in der Semperoper »Faun« von Jiří Bubeníček, im Bühnenbild seines Bruders Otto, zur Musik »L´Après-Midi d´un Faune« von Claude Debussy und einem Ausschnitt aus einer geistlichen Komposition von Francis Poulenc im Rahmen des Abends »Le Ballet Russes Reloaded«. Damit ist eine weitere Interpretation dieses inzwischen vielfach choreogafierten und gedeuteten Stoffes seit seiner von Skandalen begleiteten Uraufführung durch Diaghilews Ballets Russes in Paris, 1912, im Théâtre du Châtelet, damals mit Waslaw Nijinsky als Faun und Choreografen, in der legendären Ausstattung von Leon Bakst, hinzugekommen.

Auch in Prag nimmt diese Arbeit das Publikum sofort gefangen. Diese Deutung ist so streitbar wie aktuell und dennoch dem Original verpflichtet. Es geht um Übergriffe eines Vorgesetzten an Schutzbefohlenen, deutlich die Assoziationen zu den immer wieder erschreckenden Nachrichten über Missbrauchserfahrungen solcher Art. Der Dresdner Tänzer Claudio Cangialosi nimmt das Prager Publikum als Faun mit wunderbaren Zitaten der lasziven, historischen Bewegungen und Haltungen eines Nijinsky sofort in seinen Bann. In Abwandlungen werden diese auch von Raphaël Coumes-Marquet in der Rolle des geistlichen Vorgesetzten übernommen, so kommt es zu den perfiden Assoziationen dass der „Schuldige“ alle Schuld von sich weisen kann, ist er doch selbst ein Opfer und schlimmstenfalls lediglich der Vollstrecker eines nicht zu zügelnden faunischen Prinzips.
Und da ist , wie in Dresden, Jón Vallejo in der Rolle des Opfers. Wie dieser Tänzer in seiner zerbrechlichen Unschuld zerrieben wird zwischen der handgreiflichen Begierde einer geistlichen Aufsichtsperson und den windenden Bewegungen des Fauns a là Nijinsky als wertfreies Prinzip nicht zu steuernder Lust, das ist von großer Wirkung. Alle kommen davon in Bubeníčeks nicht nur zeitbedingt so klugen wie beklemmenden Choreografie, nur das Opfer nicht. Schwer zu vergessen, wenn am Ende Jón Vallejo ins Publikum blickt, die Spannung des Widerstandes ist aus dem Körper gewichen, die ganze Kraft sammelt sich im Gesicht, in der Choreografie eines Blickes, in der bewegenden Unbeweglichkeit der Augen des Tänzers. Noch ein Selbstzitat, entnommen einem großen Porträt des Tänzers Jón Vallejo.

»Toccata«

Außergewöhnlich in ihrer Geschlossenheit ist die Choreografie »Toccata« von Jiří Bubeníček zur Musik seines Bruders, die er 2009 für das New York City Ballet kreierte. Zunächst minimalistisch anmutende, elektronisch verfremdete Klavierklänge, dann auch, wesentlich mehr betörender Melodik verpflichtet, dunkler Streichersound. Drei Paare und ein einzelner Tänzer in sehr sensiblen Varianten der Zuordnungen, hier bekommt die Stille ihren Klang, die Ruhe ihre Bewegung, hier führt die Musik den Atem fort. Das sind kostbare Momente an diesem Abend, und das sind Begegnungen mit wunderbaren Tänzerinnen und Tänzern: Als Paare, Iana Salenko vom Staatsballett Berlin und Jón Vallejo, Duosi Zhu und Claudio Cangialosi, Anna Merkulova aus Dresden und mit der Eleganz großer Linien Arsen Mehrabyan vom Königlichen Ballett aus Stockholm, als Mann allein oder auch nicht, Michael Tucker. Zu den am Ende gefeierten Tänzern aus Dresden gehören auch Jan Oratynski, Francesco Pio Ricci, Johannes Schmidt und Fabien Voranger. Die nächsten Tanzreisen nach Prag sind eingeplant. Denn in diesem Jahr der tschechischen Musik gilt es ganz sicher tschechische Musik und Choreografen zu entdecken, bzw. ihnen wiederzubegegnen.