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„Carmina Burana“ als Tanzkiller in Leipzig

Boxer steigen mit dieser Musik siegessicher in den Ring. Michael Jackson verwendete sie für seine spektakulären Auftritte. Ob bei Modenschauen, in der Werbung, in vielen Varianten, Carl Orffs „Carmina Burana“, besonders der Eingangschor, in dem die launigen Spiele der Glückgöttin Fortuna lautstark besungen werden, tönt einem rund um die Welt entgegen. „Carmina Burana“ ist bekannt, in der E-Musik wie in der U-Musik, im Konzertsaal und mit Picknick unter freiem Himmel. Das rhythmische Werk von 1937 ist oftmals vertanzt worden, jetzt gibt es an der Leipziger Oper eine Choreografie von Mario Schröder, der damit in neuer Chefposition seine zweite Arbeit vorstellt, für das Leipziger Ballett seine erste Kreation, also eine Uraufführung. Die Erwartungen waren hoch.
Bevor es aber am Freitag im nicht ganz ausverkauften Opernhaus so weit war musste sich das Publikum etwas gedulden, zunächst gab es „A Dharma at Big Sur“, zur Musik für E-Geige und Orchester von John Adams.

"Diese Freiheit ist sympathisch" – Maiko Oishi in »Big Sur« (Fotos: Andreas Birkigt)

Offensichtlich gut geeignet für die Einstimmung auf einen Ballettabend von Mario Schröder. Das meditative Stück fließt dahin, Dynamik gibt es auch, minimalistische Kompositionstechniken haben ihre ganz eigenen Methoden die Spannung zu halten. Mit der Komposition, der Titel deutet es an, können wir uns auf eine Reise begeben, wir können Landschaften sehen, müssen aber nicht. Diese Freiheit ist sympathisch. Mit diesem Angebot ist auch der Choreograf ganz bei sich, daher sind seine Bildangebote, sein Werden und Vergehen der derselben so authentisch, so unaufgeregt und dennoch spannend. Das kleine Augenzwinkern, wenn am Ende alle Tänzerinnen und Tänzer aufstehen und mit ihren Meditationsmatten weggehen nimmt man als sympathische Einstimmung und hofft dann im zweiten Teil auf zumindest kleine ironische Brechungen. Die Hoffnung wird sich nicht erfüllen. Aber jetzt, wenn die vielen Akteure am Boden liegen, wenn sie sich erheben, wenn sich das Bild aus Menschen verändert, dann ist das eine Landschaft mit bewegten Linien wie Wogen, eine Bildfolge zum Thema „Balance“. Wenn das kein Tanzthema ist. So beginnt es auch, ein Tänzer, allein vor der Gruppe, seine Bewegungen ganz nah am Körper, mitunter nur zitternde Schauer der Haut, dann wieder reißt es die Arme weit weg. Ausbalancieren, Innen und Außen in momentane Übereinstimmung bringen, einen Anfang und ein Ende, Nähe und Weite. Akzeptanz als Chance.

Dann Carl Orff, „Carmina Burana“. Die Musik knallt in den Raum. Links und rechts vom Orchester auf Balkonen in drei Etagen der Chor. Am Pult des Gewandhausorchesters Mathias Formeny. Von Beginn an auf Überwältigungskurs. Gnadenlos. Als gelte es Orffs Kritikern Recht zu geben, etwa Strawinsky, der als das Werk zur Uraufführung kam von der „neo-neanderthalschen Schule“ sprach. Es ist eine simple Musik die hier ins Opernhaus geschleudert und gebrüllt wird, diese Kantate weltlicher Gesänge, lateinisch und mittelhochdeutsch. Fortunas Walten, der Frühling und die Zeugungskraft, sinnliche Freuden mit Suff, derb geht es zu und kräftig und über allem das zu recht von den Sängerinnen gefürchtete Sopransolo vom Sieg der Liebe. Beim Gesang von Eun Yee ist das nicht zu überhören. Dann noch ein Hoch auf Frau Venus und es rollt das Schicksalsrad, Oh Fortuna!

Oh, Fortuna!

Vielleicht ist es doch eher Mario Schröders Begabung und Stärke in direkter Erzählweise mit angemessenen Assoziationsangeboten zu überzeugen, wie er das kürzlich mit seiner Kreation „Chaplin“ in der Leipziger Neufassung bravourös unter Beweis stellte.
Von solcher Überzeugungskraft ist seine aktuelle Annäherung an Orffs Stück entfernt. Überzeugend ist die Idee, sich nicht auf tänzerische Konkretion im Sinner illustrativer Bebilderungen der Vorgaben in Musik und Text einzulassen. Das gelingt nicht gänzlich. Da gibt es einen einsamen Trinker. Einer Tänzerin im schwarzen Trikot werden mächtige Schwanenfedern in den Rücken gestochen. Dazu das berühmte Tenorsolo vom Schwan der als Braten von verbrannter Schönheit singt, leider ziemlich grob von Martin Petzold gesungen. Fünf Männer gehen maskiert einer Tänzerin an die wenige Wäsche. Aber überwiegend ist der Eindruck unentwegten Fleißes, der in regelrechte Emsigkeit umschlägt, jedem Rhythmus, jeder Tempovorgabe, vor unter oder gar in einem großen Auge zu entsprechen, das in mehr oder weniger direkter Materialität das Bühnenbild von Andreas Auerbach und Paul Zoller bestimmt.
Da gibt es in der Tat verblüffende Situationen dieser so kräftigen wie präsenten Leipziger Kompanie von geradezu artistischer Vehemenz. Am Ende aber siegt der Eifer. Und stärker wird der so verdächtige Eindruck von schöner, lauter Musik und einer Parade schöner Menschen, gut trainiert. Vielleicht ist man dieser Musik regelrecht auf den Leim gegangen, wie nach den letzten Takten auch das Publikum, es erhebt sich und klatscht im Takt.

Die Neugier darauf, wie es mit dieser starken Kompanie und Mario Schröder weiter geht, bleibt. Zunächst wenn es am 6. Märt von der halben auf die ganze Spitze geht bei der Wiederaufnahme der Choreografie „Große Messe“ von Uwe Scholz und einer für den 25. März angekündigten Premiere auf der Drehscheibe des Opernhauses mit Arbeiten von Mauro Astolfi, Alex Ketley und Mario Schröder.
Boris Michael Gruhl