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Vom etwas krampfhaften Versuch, Franz Schmidts Oper „Notre Dame“ dem Vergessen zu entreißen

Wenn sich dieser Tage der Vorhang in der Semperoper hebt, sehen wir bei verkanteter Perspektive in einen modernen Hinrichtungsraum. Könnte in Amerika sein. Die berühmte Lange-Uhr über der Bühne zeigt sechs Uhr abends; hier wird die Zeit im Fünfminutentakt weiter gehen. Auf der Bühne zeigt indes eine Uhr an, dass es fünf vor Zwölf ist. Obwohl der Sekundenzeiger beständig kreist, bleibt die Zeit hier stehen, eine ganze Stunde lang. Nach der Pause ist es eine Minute vor Zwölf auf der Bühne. Die Uhr ist größer, die Zeit bleibt wieder stehen. Der Blick nach ganz oben zeigt, wie lange 45 Minuten währen können.

Fotos: Matthias Creutziger

Auf dem elektrischen Stuhl sitzt Marilyn Monroe im orangefarbenen Overall. Das Personal ist ein Priester, zwei Wachmänner und ein älterer Mann, der ergraute, versehrte und kurzsichtige Hinrichtungstechniker. Wenn die Wachmänner ihren privaten Dialog beginnen, geht es um die Zigeunerin Esmeralda, in die einer von ihnen, Phoebus der Hauptmann, verliebt ist. Dass sie gleich singen und tanzen werde, wird angekündigt. In einem Handgemenge wird der behäbige Techniker im Hausmeisterdesign zum Glöckner, heißt Quasimodo, erhält eine graue Krone aus Pappe und einen Schlag ins Gesicht. Der Priester, jetzt Archidiakon von Notre Dame, gebietet dem Treiben Einhalt, es ist Faschingszeit, und das ausgelassene Volk krönt einen Narrenpapst. Marilyn ist als Esmeralda vom elektrischen Stuhl gestiegen und versorgt barmherzig die Wunde des Quasimodo. Er wird’s ihr nicht vergessen und kann sie am Ende doch nicht retten vor der Hinrichtung, die der ihr verfallene, bigotte Archidiakon betreibt.

Von diesem Ende her hat Günter Krämer seine Inszenierung gedacht und dramaturgisch absegnen lassen. Ob er auch daran gedacht hat, wie das alles zu verstehen ist, ohne einen Einführungsvortrag gehört zu haben, bleibt fraglich. 
Es soll wohl darum gehen, wie eine Frau im Augenblick des Sterbens in der Rückschau auf ihr Leben die Männer sieht, und wie sie in deren Augen als Projektion erscheint, je nach Veranlagung und Stand als Mildtäterin, Heilige oder Hure, noch besser alles in einer Gestalt, erst benutzt, dann getötet und anbetungswürdig in Gips gegossen.

Eine solche Sicht ist natürlich an das Werk, das eigentlich in elegisch breiter Melodik bunten Mittelalterfantasien frönt, herangetragen. Es bleibt eine blasse Idee, die auch nicht streng durchgehalten werden kann im vornehmlich konzertant-oratorischen Stil der Inszenierung, die zwar viel auf- und abfahrende Bühnentechnik attraktiv bemüht, im Hinblick auf die Personen aber immer wieder in dekorativem Leerlauf an der Rampe verebbt. Auch die Damen und Herren des Chores in Einheitsschwarz und Grau stellen sich auf, singen und gehen wieder ab.

Es fällt schwer, zu dieser szenischen Verweigerung einen Zugang zu finden, und  eine Begründung dafür das vergessene Werk so zu spielen erst recht. Die musikalische Wiedergabe vermag auch nicht den ganz großen Jubel über die Ausgrabung zu wecken. Gerd Albrecht dirigiert eine gestraffte Fassung. Die Funken der Dramatik sprühen dennoch selten, eher breitet sich ein nicht enden wollender Klagegesang aus im breiten symphonischem Fluss, dem die Singstimmen nachgeordnet scheinen, es mangelt an Höhepunkten, gut gesetzten Ensembleszenen. 

Das berühmte Zwischenspiel, einzig bekannt aus der Oper, man hört es unter Albrechts kräftigem Zugriff neu, vor allem nicht in Zimmerlautstärke. Aber man hört es in den Wiederholungen und Zitaten auch zu oft. Dass der Komponist selbst Cellist war, den Streichinstrumenten seine besondere Aufmerksamkeit galt, ist zu hören. Wenn nicht gerade die eine oder die andere Unvorsichtigkeit oder Voreiligkeit den Eindruck trübt, dann erhalten einige Passagen kraft des Spiels der Staatskapelle hohe Qualität des Klanges.

Von den Sängern hinterlassen besonders der Bariton Markus Butter in der Partie des Archidiakons und Camilla Nylund als Esmeralda nachhaltige Eindrücke. Jan-Hendrik Rootering als Quasimodo ist schon vom Komponisten eher marginal behandelt; die beiden Tenöre, Hauptmann Phoebus Esmeraldas Geliebter, und Gringoire ihr Mann, sind Robert Gambill und Oliver Ringelhahn, der erste gibt den Verliebten mit arg angestrengtem Ton. Mit Angela Liebold und Matthias Henneberg in zwei kleineren Partien ist das siebenköpfige Solistenensemble von dem ja nur drei den Abend überleben komplett. Angesichts dieser Wiederentdeckungsfalle darf man die Frage schon stellen, ob nicht eine konzertante Aufführung preisgünstiger den gleichen Stand der Erkenntnis vermittelt hätte als eine ohnehin beinahe konzertante Inszenierung.

Weitere Aufführungen: 21., 24., 28., 30. 04.; 02.05.

Eine Textfassung des Artikels ist am 20. April in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn her erneut abdrucken zu dürfen.