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Winterkorrespondenz 4: Moskau, 20 Jahre Helikon-Opera. Gefeiert wird im Kreml – mit einem „Opern-Operetten-Musical“

Ja was denn, Oper, Operette, Musical? „Tsarina“, jüngste Premiere der Moskauer Helikon-Opera hat von Allem etwas, von der Oper die große Geste, attraktiv für große Stimmen, von der Operette die Leichtigkeit im Umgang mit den Geschichten in der Geschichte und vom Musical die eher zaghaften Versuche ein wenig Pep und Schwung einzubringen und den Tanz. 

David Tychmanow nennt seinen opulenten Bilderbogen über Zarin Katharina die Große (Text: Juri Praschenzew und Galina Polidi) zwar Oper, hat aber den Anspruch, dabei so volkstümlich zu sein, dass er auf die Einflüsse der anderen Gattungen gar nicht verzichten kann. So ist dabei ein „Opern-Operetten-Musical“ herausgekommen und diese Art der Bezeichnung ist durchaus positiv gemeint. 

Die Moskauer Helikon-Opera, vor 20 Jahren als innovatives und sofort international wahrgenommenes Musiktheater begründet, hat sich einen Namen gemacht. Im Stammhaus, in Moskaus Zentrum, einem historischen Theater mit gerade mal 250 Plätzen, stehen in diesem Herbst und Winter Werke wie „Boris Godunow“, „Mazeppa“, „Siberia“ „Vec Makropulos“, „Il Barbiere di Siviglia“ oder auch „Die Fledermaus“ auf dem Plan. Gerade ist eine Neuinszenierung von Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“ hinzu gekommen. Im Helikon auf dem Neuen Arbat, einer Spielstätte im Café gibt es die äußerst beliebten szenischen Aufführungen der Bachschen Kantaten, die den Bauern oder dem Kaffee gewidmet sind. Ein erfolgreiches Projekt des Musiktheaters mit Direktor und Chefregisseur Dmitry Bertman und Chefdirigent Vladimir Ponkin. Dazu kommen Gäste, etwa für „Vec Makropulos“ der renommierte Dirigent Gennady Rozhdestvensky.

Die jüngste Premiere im Jubiläumsjahr machte Bertman zur Chefsache und brachte Tychmanows „Tsarina“ nach erfolgreicher Uraufführung in St. Petersburg zur Moskauer Uraufführung, am Pult Konstantin Chudowsky.
Ungewöhnlich ist der Ort, der Staatliche Kremlpalst von 1961 mit seinen 4.500 Plätzen und der 450 m² großen Estradenbühne, in ihren Tiefenverhältnissen eher für Parteitage konzipiert, aber schon immer für Aufführungen des Balletts und der Oper, besonders des Bolschoi-Theaters genutzt und die Bühne für die Größen des internationalen Rock- Pop- und Showgeschäfts.

Ist’s Oper, ist’s Operette? (Fotos: PR) 

Der Raum ist auch das Problem, denn die technischen Möglichkeiten sind alles andere als angemessen, ein Werk des Musiktheaters einigermaßen würdevoll zu präsentieren. Man sieht, schon in der Mitte des Parketts, die Sänger, aber kaum noch ihre Gesichter. Ihr verstärkter Gesang kommt sowieso von ganz woanders her, dass dazu die Szenen in Ausschnitten links und rechts auf großen Bildschirmen übertragen werden macht eine Klang- und Bildkoordination so gut wie unmöglich. Ähnlich das Orchester: man sieht es im Graben, vernimmt aber den Klang, nicht sehr glücklich abgemischt, aus den mächtigen Lautsprecherbatterien, die links und rechts ganz oben am Portal montiert sind.

Dass in der Premierenvorstellung zudem die Probleme mit der Technik über das Maß gewöhnlicher Pannen hinausgingen war ärgerlich. Dies umso mehr, als es ja doch galt ein Werk, wenn auch unter schwierigen Verhältnissen, kennenzulernen, das ob seiner Vielfalt der Mittel, der Farbigkeit der Musik und vor allem der Opulenz der Präsentation in der Ausstattung, durchaus für sich einnimmt.

Ein Bilderbogen, Stationen aus dem Leben der großen Zarin, das in Deutschland, am kleinen Hof zu Zerbst beginnt und am Ende auf den vergoldeten Sockel in St. Petersburg vor der Fassade des Theaters, das nach ihrer Enkelin benannt ist, führt. Da steht sie auch leibhaftig im Finale des Stückes in der Inszenierung, die liebevoll, detailliert und farbenprächtig von Beginn an diesen Sockel errichtet. Für die Hauptperson, in den Abschnitten ihres ambivalenten Lebens und Liebens machen sich drei Sängerinnen stark, keiner der männlichen Weggefährten kann dagegen ankommen oder singen. Groß sind die Katherinen, das junge Mädchen der Maria Maksakova, die Frau der Elena Mikhajlenko oder die beeindruckende große Zarin als Großmutter, Ksenia Vyzanikova. Letztere zudem als hervorragende Künstlerinnen Russlands ausgezeichnet. 

"Potenzial satter und kräftiger Stimmen von slawisch grundierter Schönheit"

Mögen dem deutschen Betrachter hymnische Elemente, Pathos und der Hang zur großen Geste inzwischen fremd erscheinen, hier wirkt eine solche Art der Präsentation beinahe authentisch. Entschädigt wird auf jeden Fall der Blick, denn Igor Nezhny und Tatiana Tulubiewa haben mit sicherem Gespür für Licht und Farben viele Bilder in romantisierenden und verklärenden Stimmungen geschaffen und der Wechsel von Szene zu Szene geschieht perfekt. Kostüme und Masken sind üppig, überhaupt die Opulenz sticht ins Auge, dazu gehören auch die Szenen des äußerst spielgewandten und tanzfreudigen Chores, als Volk, als Schar der Höflinge oder Gäste rauschender Bälle am Zarenhof und besonders in orthodox-liturgisch eingefärbten Gesängen. 

Aber die Wege von der Bühne bis zum Publikum sind offenbar zu weit, so leuchten doch ungewöhnlich oft die Displays der weitestgehend stummen Mobiltelefone, und ehe der Beifall von den fernen Galerien die Bühne erreicht ist der im Parkett längst verebbt. Alles ungewöhnlich, alles anders, manches fremd. Aber dennoch, im angemessenen Ambiente, ohne jede störende Verstärkung von Musik und Gesang, die Mischung aus Oper, Operette und Musical könnte funktionieren, zumal ja doch zu vernehmen war, dass das Potenzial satter und kräftiger Stimmen von slawisch grundierter Schönheit immer wieder für etliche Unstimmigkeiten entschädigte.

Was es aber damit auf sich hat, dass ein verklärender Blick in die zaristische Vergangenheit so viele Menschen erfreut und von einem Theater präsentiert wird, das mit anderen Zielen angetreten war und dessen Repertoire eigentlich eher der Gegenwart zugewandt ist, ist auch eine verstörende Erfahrung. Freilich ist die Verstörung von anderer Art als Tags zuvor im Bolschoi-Theater bei der Premiere der Oper „Wozzeck“.