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Mit der Wucht des antiken Dramas – 100 Jahre Elektra

“Elektrissima – geniale Idee einer genialen Regisseurin” (Foto: M. Creutziger)

Andrang und Preise wie in Bayreuth zur Dresdner Richard-Strauß-Woche des Jahres 1909. „Aus allen Musikzentren sind Kenner und Könner von Rang und Ruf herbeigeeilt, um Zeugen des

großen Tages im Semper-Heiligtum zu werden.“ Der große Tag, von dem die Abendausgabe der “Dresdner Nachrichten” sprach, war der 25. Januar 1909. Was diesen Tag so groß machte, konnte man schon drei Tage später in ganz Deutschland in der Illustrierten Zeitung lesen: er „machte die Welt des Theaters um eine Sensation reicher. Sie hieß »Elektra«. Stätte der Geburt Dresden. Urheber: Richard Strauß und Hugo von Hofmannsthal. Mithelfer: der künstlerisch-glänzende orchestrale, szenische, solistische Apparat der Königlichen Hofoper…“

Alle Abendausgaben der Dresdner Zeitungen gehen am Tag nach der Uraufführung auf das Ereignis ein. Der unbestreitbare Erfolg für die Schöpfer, für das Orchester, die Solisten und vor allem für den Dirigenten Ernst von Schuch wurde in hohen Worten beschrieben. Größte Zustimmung, bald auch in den Berichten aus Berlin, München, Frankfurt oder Köln galt Annie Krull in der Titelpartie; Lob für Margarethe Siems als Chrysothemis, Johannes Sembach und Carl Perron als Aegisth und Orest. Zurückhaltung bis Ablehnung hingegen für Ernestine Schumann-Heink als Klytämnestra. Strauß selbst schreibt in seinen Erinnerungen, dass die einstige berühmte Wagner-Sängerin sich als ein Fehlgriff herausstellte. „Mit alten Stars ist für mich nichts zu machen, – damals ahnte mir schon selbst, wie grundlegend mein Gesangsstil sich selbst vom Wagnerschen unterscheidet.“

“Größte Zustimmung”: Annie Krull (Foto: PR)

Wird von den einen die Abkehr von Wagner begrüßt, so wird sie von anderen zum Grund heftiger Ablehnung. „Und die Stunde wird kommen, da wird das Publikum, hat es erst einmal seine Neugier befriedigt, aus den Theatern flüchten, sobald der Dramatiker Strauß seine Stimme erhebt. Vielleicht nicht heute, nicht morgen, doch in naher Zukunft. Wenn anders..wahrlich, dann wäre Wagners Wirken und Wollen ein Wahn gewesen, dann wären wir seiner Werke nicht wert.“ Der Kritiker der “Illustrierten Zeitung” irrte. Wird auch in anderen Rezensionen immer wieder bemerkt, dass ja die „Elektra“ eigentlich nichts Neues bringe nach der „Salome“, setzt sich doch allmählich die differenziertere Einschätzung durch, wie schon nur einen Tag nach der Uraufführung in den Dresdner Nachrichten zu lesen ist, dass die Phantasie des Komponisten willig die Schönheit des Klanges dem Wahren opfere. Bis ins Groteske gehe die Steigerung der Ausdrucksmittel, schreibt das Berliner Tageblatt, und für den Rezensenten des Neuen Wiener Tageblatts ist »Elektra« „ein Triumph des schärfsten Kunstverstandes“.

“Triumph des schärfsten Kunstverstandes” (Foto: PR)

Das Werk geht von Dresden aus um die Welt. Eine Herausforderung für jedes Orchester, für Dirigenten und Sänger und in immer stärkerem Maße für Regisseure und Ausstatter. Nachdem es am 22. April 1944 zur letzten Aufführung im zweiten Semperbau unter der Leitung von Karl Elmendorff kommt, gibt es noch zwei Neuinszenierungen: 1972 unter der Leitung von Hermann Kutschbach und 1937 mit Karl Böhm am Pult. Unter seiner Leitung wird auch im Dresdner Studio Lukaskirche die erste Gesamtaufnahme im Oktober 1960 mit einem Ensemble, das bis heute seines gleichen sucht, eingespielt. Das expressive Trio der Frauen, die Klytämnestra der Jean Madeira, die Elektra der Inge Borgk, die Chrysothemis der Marianne Schech, die Herren Fritz Uhl und Dietrich Fischer-Dieskau setzten Maßstäbe des dramatischen Strauß-Gesanges. Fundament dieser Einspielung aber ist die Staatskapelle Dresden, „das von Richard Strauß so sehr geliebte Uraufführungs-Orchester seiner Werke“, so Karl Böhm damals zur Besonderheit dieser Aufnahme.

Nach der Zerstörung Dresdens, der auch das Opernhaus zum Opfer fiel, mussten die Dresdner und ihre Gäste auf Aufführungen ihrer »Elektra« verzichten. Otmar Suitner leitete am 7. und 10. April 1962, im Schauspielhaus, damals Großes Haus und auch Spielstätte der Oper, zwei konzertante Aufführungen mit Christel Goltz in der Titelpartie, Theo Adam und Manfred Huebner als Aegisth. Brünnhild Friedland sang die Chrysothemis und Ruth Lange die Klytämnestra.

Als am 13. Februar 1985 das wieder erstandene Opernhaus eröffnet wurde, war an eine Aufführung der »Elektra« eigentlich nicht zu denken: der Orchestergraben war zu eng für das große Elektra-Orchester! Dass dennoch das Werk am 15. Juli 1986 in der dritten Semperoper eine triumphale Premiere erlebte, verdankt sich der genialen Idee einer genialen Regisseurin. Ruth Berghaus (1927 – 1996) aus Dresden, Schülerin von Gret Palucca und Wolfgang Langhoff, platzierte die 126 Musiker des großen Straußorchesters unter Leitung von Hartmut Haenchen auf der Bühne. Das Ensemble agiert in der Musik und vollzieht auf den unterschiedlichen Ebenen eines von Winfried Schaal in die Szene gestellten hochragenden Baus, dem „Sprungturm“, eine Abfolge entsetzlicher selbstzermarternder Rituale des Wartens auf äußere Erlösung. „Elektrissima“ überschrieb Peter Zacher seine Rezension in der „Union“ und traf damit die elektrisierende Wirkung dieser die Schmerzgrenzen erreichenden Inszenierung des zwanghaften Stillstands.

Gisela Schröter, Ute Vinzing, Helga Thiede waren Klytämnestra, Elektra und Chrysothemis, Günter Neumann und Theo Adam Aegisth und Orest an diesem so denkwürdigen wie sensiblen Abend künstlerischer Zeitansage. Diese Dresdner Elektra-Inszenierung hat Umbesetzungen erfahren und Wiederaufnahmen erlebt. Nach fast 23 Jahren ist ihre Kraft ungebrochen, weil sie im Moment ihres Geschehens wieder aufsteigt aus der Musik, mit der Wucht des antiken Dramas hineinwirkt in die persönlichen Erfahrungen der Menschen im Opernhaus.

Am Sonntag, 100 Jahre nach der Uraufführung, wird »Elektra« wieder gespielt. Marc Albrecht hat die musikalische Leitung. Und dann heißt es Abschied nehmen. Nach der Vorstellung am 28. Januar findet am 2. Februar die letzte Aufführung dieser Inszenierung statt. Kein leichter Abschied, keine leichte Wartezeit, hoffentlich nicht zu lange.

Boris Michael Gruhl

Eine Textfassung des Artikels ist am 24. Januar 2009 in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.

100 Jahre Elektra in der Semperoper
Aufführungen am 25.01., 28.01., 02.02., 19.00 Uhr