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Sie sprang in die Moderne

Heute vor 120 Jahren wurde Palucca in München geboren. Getauft wurde sie auf den Namen Margarethe Paluka, später wird sie ihren Namen ändern. Am Ende wird aus Gret Palucca dann nur noch Palucca – das ist eben so bei Stars. Überhaupt wird es sich wie ein Rätsel durch ihr Leben ziehen: das, was sie war und das, was sie sein wollte. Palucca und ihre sagenhaften Sprünge, aber auch ihre sensible Zurückhaltung, geradezu verinnerlicht und sanft berührend in einem Solo wie »Serenata«. Kommen hier eigentlich das Leben und der Tanz in eine künstlerische, ästhetische Verschmelzung?

Ist sie wirklich in die Moderne gesprungen? Womit hat sie ihre hohen Sprünge bezahlt, welche Zugeständnisse musste sie machen, in der Zeit des Nationalsozialismus, wie gelang dann der Sprung in den neuen Sozialismus der DDR?

Wer fragt gewinnt, ganz sicher auch immer wieder neue Einsichten, Erkenntnisse, was Korrekturen zur Folge haben kann, Bestätigungen auch. In der Wahrnehmung künstlerischer Entwicklungen, insbesondere in der wortlosen Kunst des Tanzes, sollten die Fragen nicht aufhören, sollten Entwicklungen in historischen Kontexten immer bedacht werden. Wie lässt sich das besser vermitteln als in der angemessenen, differenzierten und von nötiger Sensibilität geführten Erinnerung. Dies gilt besonders heute, an ihrem 120. Geburtstag, für Palucca.

Und wen sollte man das besser befragen als den Berliner Theaterwissenschaftler und Autor Ralf Stabel, ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der Tanzgeschichte. Mit seiner Biografie und seiner Mitarbeit am jüngst uraufgeführten Dokumentarfilm über den verfolgten und vergessenen – zu Unrecht wie man bei Stabel erfährt – Alexander von Swaine, hat er Maßstäbe gegenwartsbezogner Erinnerung gesetzt. Er ist mit aller nötigen Sensibilität auf menschliche Irrtümer und Verführbarkeiten den Verstrickungen  von Tanz und Geheimdienst in der DDR nachgegangen: »IM Tänzer«.

Also bietet es sich heute, aus gegebenem Anlass einfach an, Ralf Stabel zu fragen, wie lange er sich mit dem Leben, dem Tanz, dem persönlichen, dem künstlerischen Vermächtnis von Palucca beschäftigt. Ob er wesentliche Veränderungen in den Erkenntnissen benennen kann, etwa zwischen dem Erscheinen der ersten Biografie, »Tanz, Palucca« (2001) und  »Palucca – ihr Leben, ihr Tanz«, fast 20 Jahre später?

Ralf Stabel: 1993 bin ich an die Palucca-Schule gekommen und war erstaunt über die sich derartig diametral entgegenstehenden Haltungen zu Palucca. Das hat mich sofort interessiert: Wie kann ein einzelner Mensch soviel Bewunderung und Ablehnung gleichermaßen auf sich ziehen? Mit Peter Jarchow zusammen, dem damaligen Direktor, konnte ich dann die erste Nachwende-Biografie über Palucca veröffentlichen. Veränderungen in der Sicht auf sie kommen selbstverständlich dadurch zustande, dass die zugängliche Aktenlage sich erweitert und sich unsere Sicht auf Menschen in Geschichte und Gegenwart permanent ändert. Das hängt also eher mit uns als mit ihr zusammen.

Lässt sich absehen, was bleiben wird von dem, was sie künstlerisch geleistet hat, als Tänzerin der hohen Sprünge, vor allem aber als Lehrerin, denn da hat sie ja gewissermaßen Generationen von Tänzerinnen und Tänzern, Choreografinnen, Choreografen, geprägt? 

RS: Was sie für den Tanz geleistet hat, ist noch nicht im öffentlichen Bewusstsein. Sie hat den Tanz in die Moderne geführt, in dem sie die tänzerische Form und Struktur an sich ausgestellt hat. Ebenso wie z. B. Kandinsky in der Bildenden Kunst. Viele andere – auch ihrer und auch unserer Zeit – benutzen Tanz, um etwas Außertänzerisches darzustellen, wie man es seit Jahrhunderten aus dem traditionellen Theater kennt.

Aber da es keine eigentliche Dokumentationen gibt, wie steht es um die Gültigkeit der Erinnerungen…

RS: Das, was an Dokumenten überliefert ist, reicht völlig aus für unser Erinnern. Programm-Zettel mit dem Titel »Tanz Palucca« zeigen, dass nichts anderes zu erwarten war, als dass Palucca tanzen würde. Für die Titel der Tänze wählte sie z. B. die Bezeichnungen der Musik. 

»Stark betont« oder »Beschwingt« oder »Gemäßigt«Und genau das sah dann das Publikum: Palucca stark betont, beschwingt oder gemäßigt tanzend. Genial! Es gibt ja auch ungezählte Kritiken, Zeitzeugen-Aussagen, Selbst-Aussagen, Korrespondenz mit ihr und über sie, Filme. Ihren Unterricht in den 1960er und 70er Jahren haben der Pianist Peter Jarchow und die Pädagogin Eva Winkler damals dokumentiert. Diese Dokumentation erscheint demnächst wieder. Dieses Mal sogar in einer deutsch-englischen Ausgabe. Und selbst eine „Stasi-Akte“ über sie gibt es.

Lassen sich da verlässliche Aussagen machen, über 30 Jahre nach Beendigung ihrer Lehrtätigkeit, 31 Jahre nach ihrem Tod, anlässlich ihren 120. Geburtstages?

RS: Auf jeden Fall. Aussagen zu Vergangenem hängen allerdings immer maßgeblich davon ab, welche Fragen wir stellen. Ich denke, wir sollten möglichst vorurteilsfrei fragen und dadurch lernen.  

Tanz ist ohnehin die Kunst der Vergänglichkeit, in diesem Falle aber eben auch die Art der Ausbildung, in Paluccas Fall wohl eher eine Art der Anregung?

RS: Palucca ist durchaus mit Ideen in den Unterricht gekommen, hat dann korrigierend in die Ausführungen der Tanzenden eingegriffen und ist dabei durchaus auch ihr Anfangsthema nochmal von einer anderen Seite angegangen. Es ist eine Frage der Perspektive, dies nun als inkonsequent im Sinne von Nichteinhaltung einer Konzeption zu betrachten oder eben als logisch konsequent im Sinne der Orientierung an den im Moment erkannten Erfordernissen der Stunde und der Studierenden. 

Derzeit beschäftigen ja weithin Fragen nach politischen Haltungen von Künstlerinnen und Künstlern die Diskussionen, nicht selten auch mit voreiligen Gleichsetzungen oder vorschnellen Zuordnungen…

RS: Es gibt Zeiten, in denen gern schnelle Urteile gefällt werden. Mitunter vorschnelle. Vermutlich leben wir gerade in einer solchen Zeit. Ich formuliere, wenn ich über Vergangenes schreibe, stets im Präsens, weil ich dadurch den Lesenden die Chance gebe, sich mit der Protagonistin zu entwickeln. Wie viele hätten – eingedenk der Informationslage damals – das Angebot, an den Olympischen Spielen 1936 in Berlin teilzunehmen, abgelehnt? Und ist man deshalb, weil man es nicht tat, sofort Nationalsozialistin? Man ist heute sicher gut beraten, sich umfassend zu informieren und immer auch die tatsächlichen Handlungsoptionen der Zeit zu kennen und zu respektieren. Palucca musste sich– im Sprachgebrauch der Zeit – als „Halb-Jüdin“ vermutlich sehr geschickt verhalten, um das „Dritte Reich“, von dem ja niemand wissen konnte, wie lange es existieren würde, überstehen zu können.

Lässt sich nach umfänglicher Forschung, auch nach Sichtung von Dokumenten, Zeitzeugnissen und Korrespondenzen so etwas wie politische Anbiederung oder Zugehörigkeit entdecken oder nachweisen?

RS: Auch das ist eine Frage der Perspektive. Palucca hat meines Wissens die Nähe zu den jeweils Mächtigen nicht gesucht. Da waren andere in sämtlichen Systemen, die sie erlebt hat, ganz anders „am Ball“. Sie hatte ein gutes Gespür für Menschen, die sie unterstützen würden, damit sie tanzen und unterrichten konnte. Nur das wollte sie meines Erachtens. Mit ihnen ist sie Bindungen ganz unterschiedlicher Art eingegangen.

Oder waren es eben sowohl in der Zeit des Nationalsozialismus als auch in der Zeit des realen Sozialismus in der DDR, eben jene Sprünge und Drehungen, Wendungen, die – mitunter sicherlich geschickt und selbstbezogen – aber doch der eigenen Existenz und somit der eigenen Kunst, die davon ja nicht zu trennen ist, verbunden?

RS: Hier half ihr wieder ihr schon benanntes Tanzkonzept. Einen Tanz wie »Aufschwung« konnte sie nach der Weltwirtschaftskrise, zu Beginn des Nationalsozialismus und genauso zu Beginn der DDR tanzen. Sie musste über Jahrzehnte nichts verändern, wurde verstanden und war ganz selbstverständlich Zeitgenossin.

Oder lassen sich gar im Tanz, in der Art des Unterrichtens, der Anregungen für junge, künftige Tänzerinnen und Tänzer, auch nonverbale Assoziationen als Reaktionen auf politische Strukturen erkennen, mit denen man umgehen muss, wenn man nicht untergehen will…..

RS: Als ich mir die benannte Dokumentation ihres Unterrichts das erste Mal ansehen konnte, habe ich mich zumindest gewundert, wie oft bei ihr im Unterricht offenbar marschiert wurde. Auch Filme geben das wieder. Aber Marschieren war ganz selbstverständlicher Bestandteil ihrer Lebenswirklichkeit: Vom Kaiserreich über 1. und 2. Weltkrieg bis zur Wiederbewaffnung der beiden Deutschlands. Warum sollte sich das nicht in ihrer Kunst und in ihrem Unterricht zeigen?

Auch am 120. Geburtstag sind nicht alle Fragen geklärt, aber: wer war diese Frau – Genie, Heldin, Tyrannin?

RS: Das sind Zuschreibungen von heute und außen. Sie selbst hätte sich ganz selbstverständlich von diesen Beschreibungen ihrer Persönlichkeit distanziert. So kann man auch heute noch viel von ihr lernen. Allein wie sie mit Denunziationen und Angriffen auf ihre Person umgegangen und wie sie im Kampf mit der Politik für eine zeitgemäße Tanzausbildung eingetreten ist, beeindruckt mich immer wieder.


Peter Jarchow und Ralf Stabel, »Palucca, aus ihrem Leben – über ihre Kunst« (1997); Ralf Stabel, »Tanz, Palucca!« (2001); Ralf Stabel »Palucca – ihr Leben, ihr Tanz« (2019). Alle Bücher im Henschel-Verlag

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