
Mit der gerade beginnenden Konzertsaison feiern Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704 bereits ihr zwanzigjähriges Bestehen. Für »Musik in Dresden« hat Björn Kühnicke den Künstlerischen Leiter Václav Luks gebeten, einmal mit ihm in die Ensemblegeschichte zurückzuschauen.
Václav Luks: Ich bin nicht unbedingt derjenige, der zurückblickt. Aber zwischendurch schaut man natürlich auch mal auf die eigene Geschichte. Das waren sehr schöne, abenteuerliche zwanzig Jahre. Gerade der Anfang war von Idealismus und Enthusiasmus geprägt. Ich hatte mir zum anstehenden Bachjubiläum 2005 gedacht, es wäre höchste Zeit: wenn ich irgendetwas in Prag aufbauen möchte, dann jetzt. Natürlich war das erstmal ein Versuch. Unser Ziel war es, die großen Vokalwerke von Bach in Prag aufzuführen. Zu diesem Zweck habe ich eine bereits bestehende Kammermusikformation zum Barockorchester erweitert und vor allem das Collegium Vocale gegründet. So fing alles an.
Und wie erinnern Sie diese Anfänge?
Es war ein großes Abenteuer. Ich hatte keinerlei Erfahrung mit der Leitung eines solchen Ensembles und uns fehlte die finanzielle Deckung. Große Pläne und weniger Mittel. Ohne den Idealismus und Enthusiasmus aller Beteiligten wäre das gar nicht möglich gewesen. Und dieser idealistische Geist ist dem Ensemble bis heute eigen geblieben. Natürlich gab es auch einige Wechsel, manche sind nicht mehr dabei, andere sind dazugekommen. Aber den Geist des Ensemble, das Positive, das Freundschaftliche, das Idealistische haben wir uns erhalten. Und dieser Geist ist es auch, was meiner Meinung nach unser Publikum liebt und fasziniert.
Gar nicht so lange nach der Gründung von Collegium 1704 haben Sie begonnen, die Musikbrücke von Prag nach Dresden zu bauen. Wie kam es dazu?
2007 waren wir auf Einladung der Dresdner Musikfestspiele mit Jan Dismas Zelenkas »Missa Votiva« zum ersten Mal in der Annenkirche zu Gast. Da haben wir Günter Seidel, den Kantor emeritus der Annenkirche, kennengelernt. Und ich dachte mir, so ein schöner Raum und ein tolles Publikum. Von Prag ist es nicht weit! Warum sollten wir nicht öfter nach Dresden kommen. Neben Bach war Zelenka zum zweiten Fokus des Ensembles geworden, der den Großteil seiner musikalischen Karriere in Dresden verbrachte und auch hier begraben liegt. Ein guter Grund also, eine Musikbrücke zwischen Prag und Dresden zu bauen. Dass wir unsere Konzerte sowohl in Prag als auch in Dresden spielen, ist für mich ein ideales Beispiel für eine tschechisch-deutsche Freundschaft. Es ist eine Zusammenarbeit zwischen zwei Städten, die sehr viel zu sagen hat, die Substanz hat und ich bin sehr stolz darauf, was wir hier gemeinsam aufgebaut haben.
In der Jubiläumssaison präsentieren Sie ein reiches Programm. Mit Bach und Zelenka sind die Sterne Ihres Repertoires natürlich prominent vertreten, aber es finden sich auch Sinfonien der Wiener Klassik …
Die Idee war, in dieser Saison auf die Arbeit der letzten Jahre zurückzublicken. Da sind Bach und Zelenka zentral. Wir wollen aber auch zeigen, wie sich unser Repertoire erweitert hat, bis zu Mozart und seinem Zeitgenossen Jan Vaňhal. Gelegentlich gehen wir sogar noch weiter bis zur Spätromantik. Außerdem bin ich sehr froh, dass in dieser Saison zum ersten Mal Tomáš Netopil ein Konzert leiten wird. Ein Dirigent, der vor allem für seine Interpretationen des klassisch-romantischen Repertoires bekannt ist. Er hat allerdings auch eine große Affinität zur Alten Musik, spielt selber Barockvioline und hat ein eigenes Barockensemble. Wir waren schon lange im Gespräch und dieses Jahr wird er im Dezember Carl Philipp Emanuel Bachs »Magnificat« dirigieren. Fürs Ensemble ist es immer eine große Bereicherung, mit anderen Dirigenten arbeiten zu können.
Mit Antonio Caldara und Alessandro Stradella schauen wir am Ende der Saison auf die starke italienische Tradition in Dresden zurück. Dresden war als katholischer Hof in der Barockzeit stark italienisch geprägt. Die Hofkirche und die Hofkultur August des Starken und seines Sohnes waren musikalisch gen Süden orientiert. Und Namen wie Caldara oder Francesco Durante gehören einfach zur Dresdner Musikgeschichte.
Auch zur Prager?
Auch zur Prager! Auch Prag war sehr katholisch. Wenn man böhmische oder tschechische Musik der Zeit beschreiben will, umreißt man ein gesamteuropäisches Panorama. Prag war wie eine Kreuzung der Kulturen zwischen italienischem, französischem und auch protestantischem Stil. Ich glaube, durch die Lage im Herzen Europas gibt es diese verschiedenen Einflüsse und sie wurden von Prag aus auch weitergeschickt, vor allem durch die Jesuiten mit ihrem weltweiten Netzwerk. Auch nach Dresden, wo die katholische Kultur, nachdem August der Starke zum Katholizismus konvertiert war, etwas gänzlich Neues brachte.
Die Musikbrücke steht also auf historischen Pfeilern…
Dadurch, dass die beiden Städte so nah beieinander liegen, gab es immer schon einen natürlichen Austausch. Auch im Erzgebirge war die kulturelle Grenze nicht so streng gezogen, wie es auf Karten scheint. Da gab es viele protestantische Einflüsse, auch in Böhmen. Mich fasziniert immer wieder dieses friedliche Nebeneinander der beiden Konfessionen, katholisch und protestantisch, wie sie nachbarschaftlich gelebt haben und sich auch immer wieder gegenseitig beeinflusst haben. Ohne große Aggressionen war das über lange Zeit ein harmonisches Miteinander. Manchmal kann man aus der Vergangenheit sehr viel lernen.
Aus der Vergangenheit lernen … da denk ich an die letzten Wahlen in Ihrer Heimat, in denen Andrej Babiš mit seiner Partei großen Zuspruch erfuhr. Was denken Sie, heißt das für die tschechische Kulturpolitik?
Das wissen wir noch gar nicht. Im Ausland sieht das vielleicht viel dramatischer aus, als es ist. Babiš ist ein Businessman und er denkt sehr stark an seine eigenen Geschäfte, die ihn stark mit dem Westen verbinden. Deshalb wird er die Zusammenarbeit mit Westeuropa nicht abbrechen. Das will er gar nicht. Wir hatten ihn schon einmal als Premier und haben es damals überlebt. Wir werden es auch diesmal überleben.
Zurück nach Dresden. Mit Collegium 1704 tragen Sie Zelenka regelmäßig in seine musikalische Wahlheimat, ins deutsche Versailles. Sie tragen damit aber wirklich keine Eulen nach Athen. Warum tut sich gerade die Barockstadt Dresden so schwer mit der Barockmusik?
Die Tradition ist in Dresden mit Strauss und Wagner einfach die Großromantik. Tradition ist etwas Gutes, aber manchmal kann die Tradition auch zur Last werden. Das habe ich auch in Prag erlebt, als wir beispielsweise Smetana gespielt haben. Wenn man sich diese Musik mit neuen Augen anschauen will, muss man sich von der Tradition befreien. Ich glaube, dass die Tradition in Städten wie Dresden, München oder Wien einfach sehr stark ist und es deshalb schwierig ist, für eine neue Art der Interpretation einen Platz oder auch ein Publikum zu finden.
Wie schwer ist es an der Elbe ihrer Erfahrung nach?
In Dresden gibt es einfach mit Semperoper und Kulturpalast stark verankerte Orte. Oder auch den Kreuzchor — ein fantastischer Chor. Das ist einfach eine feste Adresse fürs Publikum, für Weihnachtsoratorium oder Bach-Passionen. Diese Art der Aufführung hat aber mit der historischen Aufführungspraxis des Barocks wenig zu tun. Weihnachtsoratorium, Stollen, Glühwein, Kreuzkirche, Kruzianer passt zusammen, ist wunderbar. Sechzig Knabenstimmen hätte es im 17. Jahrhundert aber nie gegeben, das ist ein romantischer Zugang zu Bach.
Warum glauben Sie, stößt die Alte Musik in Prag, anders als in Dresden, auf einen solch fruchtbaren Boden?
Darüber habe ich viel nachgedacht. Vielleicht liegt es an unserer Schwejk-Mentalität. Die Böhmen hatten immer einen Hang gegen das Etablierte, eine Vorliebe fürs Gegensteuern. Bei uns ist die Tradition mit der Tschechischen Philharmonie und zwei großen Opernhäusern natürlich auch sehr stark. Wenn man bei uns aber etwas bringt, was dagegen steuert, was ein bisschen provokativ ist, reagiert das Publikum sehr neugierig. Wir waren auch nicht die ersten, die in Prag Barockmusik gespielt haben. Ein wichtiges Vorbild für mich, und auch ein Wegbereiter, war Milan Munclinger — ein tschechischer Dirigent und Musikwissenschaftler. Munclinger hat bereits 1951 mit Ars Rediviva ein Barockensemble gegründet, mit dem er noch auf modernen Instrumenten, aber mit sehr viel Wissen und Engagement, alte Musik gespielt hat. Eine sehr charismatische Person. Und ich dachte mir, wenn er es geschafft hat, das Rudolfinum mit Bach und Zelenka zu füllen, dann schaffen wir das auch.
Und in Dresden?
In Dresden ist es etwas schwieriger. Wir haben einen Fanclub hier, ein fantastisches Publikum, aber in Prag können wir problemlos die 1200 Plätze des Rudolfinum füllen — alles ausverkauft. In Dresden sind die Publikumszahlen für Alte Musik einfach kleiner.


Ich würde gern noch einmal auf die Tradition zurückkommen. Mit Schwejkschem Widerspruchsgeist setzen Sie gegen die romantisch-symphonische Tradition die Barockmusik, also eine ältere Tradition. Wie denken Sie sich diese auf den ersten Blick paradoxe Volte?
Die historische Aufführungspraxis, auf historischen Instrumenten, ist in dem Sinne gar keine Tradition, oder wenn überhaupt höchstens eine sehr junge. Wenn man wirklich von Tradition sprechen wollte, müsste man eine Kontinuität vorfinden. Und die hat man in der Alten Musik einfach nicht. Die Alte-Musik-Bewegung hat versucht, etwas Abgebrochenes zu rekonstruieren. Das ist nicht die Tradition. Tradition ist etwas, was dauerhaft da ist. Die historische Aufführungspraxis ist eine Revolution. Nikolaus Harnoncourt oder Philippe Herreweghe, Gustav Leonhardt, William Christie, Reinhard Göbel und andere – das war eine Gegenaktion gegen das musikalische Establishment der Zeit.
Ich höre da eine Bewunderung für die alten Herren der Alten Musik…
Ja klar. Als Harnoncourt angefangen hat, wusste niemand, wie zum Beispiel eine Barockoboe klingt, oder wie sie gespielt wird. Heute haben wir tausende Aufnahmen, Instrumentalschulen, Studiengänge, die Barockmusiker ausbilden — alles ist da. Aber damals hatten sie keine Ahnung. Sie haben etwas auf der grünen Wiese aufgebaut und jahrelang geprobt und geforscht, bevor sie das erste Konzert gespielt haben. Man musste erstmal lernen, die Instrumente überhaupt zu bedienen. Ich bewundere diese Kraft, den Willen und die Vision dieser Musiker. Wir müssen ihnen bis heute unglaublich dankbar sein für diese Aufbruchsarbeit, raus aus dem Mainstream. Darauf bauen wir bis heute.