
Es sind die kleineren, wendigeren Konzertformate, die das Saisonprogramm der großen Musiktanker Philharmonie, Staatskapelle, Operette, Kreuzchor usw. begleiten und das Dresdner Kulturleben reicher und bunter machen.
Wer sich ein bisschen umhört, kann da noch Entdeckungen machen, die vielleicht im Kulturkalender der beiden lokalen Zeitungen gar nicht aufgeführt sind. So werden die Ohren ordentlich durchgeputzt…
Spontan schloss ich mich Ende Oktober einem „Ausflug in die französische Küche“ an. Der Frauenkirchenorganist Niklas Jahn hatte da unter dem Titel »Délices français« ein anspruchsvolles Programm zusammengestellt, César Franck, Maurice Duruflé, Louis Vierne, Olivier Messiaen, Nicolas de Grigny hießen die Chefs de partie der einzelnen Abteilungen, Charles-Marie Widor war zum Sommelier berufen worden. Die beiden Zwischengänge indes, Improvisationen von Niklas Jahn, rundeten das Menü erst und machten es aufregend. Im gut gefüllten Rundschiff der Frauenkirche sah ich wohl manchen ratlosen Blick, einige verließen gar die Kirche ob der komplexen Klänge, die da auf uns herabregneten, und die demnächst vielleicht einmal eine ausführlichere Schilderung verdienen.
Am letzten Sonntag wurde in der benachbarten Kreuzkirche an den 100. Geburtstag von Mikis Theodorakis erinnert. Der Chorleiter von »Vocal Concert« Peter Kopp erinnerte sich im Programmheft:
1982 komponierte Mikis Theodorakis [die Liturgie Nr. 2 – gewidmet den Kindern, getötet in Kriegen] für die Dresdner Musikfestspiele. Als 16-jähriger Sänger des Dresdner Kreuzchores nahm ich an der Uraufführung teil, ebenso an der CD-Aufnahme, die sich im Herbst 1983 anschloss. Ich wusste vorher fast nichts über Mikis Theodorakis, nichts über sein Werk und sein bewegtes Leben. Die Probenarbeit war mühselig, da der Kreuzchor und auch Kreuzkantor Martin Flämig mit dieser Art von Musik überhaupt keine Erfahrung hatten. Die liturgisch anmutenden Sätze gelangen recht gut, die rhythmisch ungewohnten weniger. Auch die Texte, wunderbar bildhaft von Dirk Mandel übertragen, werden von den damaligen Kruzianern nur annähernd erfasst worden sein.
Die Skepsis der Kruzianer gegenüber allem, was politisch links anmutete, war damals durch die Alltagserfahrungen in Schule und Gesellschaft sehr groß. Was war nun von diesem ungewöhnlichen Werk zu halten? Eingerahmt von Morgen- und Abendgebet, breitete sich vor uns ein wortgewaltiger und musikalisch eigenwilliger Kosmos aus, in dem Partisanen wie Che Guevara verehrt oder Anne Frank beweint wurde. Wir machten uns nicht allzu viele Gedanken; es musste gesungen werden – also taten wir es mit kindlicher bzw. jugendlicher Leidenschaft, obwohl uns einige der Inhalte fremd blieben.
Aber eines war doch anders als nach anderen Uraufführungen: Die Texte und die Musik haben sich wohl jedem von uns förmlich „eingebrannt“. Mit zunehmendem Alter wurde mir – und sicher auch anderen Beteiligten – deutlich, dass wir es bei der Liturgie mit einem wirklichen Kunstwerk zu tun gehabt hatten, dessen Sinn und
Wirkung zu ergründen noch vor uns lag.
Das neue Werk wurde damals auf Platte gepresst. Es nun mit Vocal Concert live zu hören, hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, und es lohnt, sich auf den Spuren von Peter Zacher und dem Übersetzer, Filmemacher, Produzenten und intimen Theodorakis-Kenner Asteris Kutulas etwas tiefer in dieses faszinierende Stückchen Musikgeschichte einzugraben. Die einzelnen Sätze der Liturgie sind Neufassungen existierender Lieder (Texte: Theodorakis und Tasos Livatidis) wie etwa von »Tin Porta Anigo to Vrady«, deren Melodien sich tief ins Ohr graben und auch in anderen musikalischen Sphären der endsiebziger und achtziger Jahre Wiedergänger hatten. Etwa von Milva oder dem im Kreuzkirchen-Programmheft zitierten Herman van Veen… Sicher, manches wirkt den damaligen politischen Zeiten verhaftet („Für all die Kinder gabst du dein Leben hin, Che Guevarra…“). Aber die Tiefe und Ernsthaftigkeit der Texte, die musikalische Fülle und der galante Umgang mit musikalischen Vorbildern und Stilen machen das Werk in unseren politisch ja nicht minder bewegten Zeiten zu einem wenn nun nicht hochaktuellen, aber doch wichtigen Baustein der jüngeren Dresdner Musikgeschichte, der nicht vergessen werden darf. Wer sich hier festbeißen möchte, könnte sich auf der Webseite des Theodorakis-Experten Gerhard Folkerts einen ersten Überblick verschaffen und dann mit dieser Wiederauflage der älteren Theodorakis-Biografie der Theodorakis-Freundin Gail Holst-Warhaft noch tiefer schürfen.
Eine kleine, aber wichtige Zäsur im Dresdner Musikleben ist sicherlich auch die Neubesetzung der Professur für Orchesterdirigieren (und die damit verbundene Leitung des Hochschulsinfonieorchesters) mit dem Dirigenten Roland Kluttig. 1968 in Radeberg geboren, studierte Roland Kluttig zur Wendezeit selbst in Dresden, war später GMD in Coburg und Graz. Sein Antrittskonzert am Freitag mit Benjamin Britten und Robert Schumanns Zweiter Sinfonie in der Semperoper setzte ein dickes Ausrufezeichen. Unter seiner Leitung (und unter dem kritischen Blick der Familienangehörigen aus dem Opernrang) spielte das Sinfonieorchester selbstbewusst, technisch (natürlich) solide, aber auch mit Gefühl für stilistische Feinheiten. Der herzliche Applaus aus dem recht gut gefüllten Semperopernrund galt den Solisten Yu Takashima (Horn und Naturhorn), dem Tenor Jongwoo Hong, allen Kommilitonen und natürlich dem neuen Stelleninhaber, der den Werken eine kurze Einführung vom Pult aus voranstellte, was in Dresden gern viel öfter geschehen dürfte – gerade bei einem sichtlich und hörbar nicht eben mit allen Wassern der Klassik gewaschenen Publikum, das prompt zwischen alle Sätze klatschte. Den ziemlich poetisch-verschwurbelten, verdächtig nach ChatGPT klingenden Einführungstext des Konzerts hatte wohl kaum einer gelesen…
Womit ich noch zu einem interessanten vierten Konzertschwerpunkt komme, einem kleinen Chopin-Festival des sächsischen Landesmusikgymnasiums. Unter der Leitung der Klavierprofessorin Aleksandra Mikulska fand da im Festsaal der Villa Rothermund ein interessantes Konzert mit Chopin-Werken statt, teils solistisch, teils in Kammermusikbesetzung aufgeführt. Da das für meine Ohren ein bisschen zu laut wurde, habe ich die Chance ergriffen, das gesamte Programm diese Woche noch einmal im Robert-Schumann-Saal des Dresdner C.-Bechstein-Zentrums zu hören, vor vollem Haus! (Schade, dass der Flügel diesmal nicht so gut gestimmt war wie der im Landesgymnasium; das sei nur am Rande erwähnt, weil gerade an diesem Ort unerwartet) Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler waren höchst achtbar, auch wenn immer noch viel Material am oberen dynamischen Rand der Möglichkeiten entlanggedonnert wurde, wo es aus meiner Sicht diffiziler, durchgeistigter, pointierter hätte klingen dürfen. Wie es der Pianist Dmitry Ablogin, der Chopins späte Werke auf Chopins eigenem Pleyel-Flügel eingespielt hat, im Gespräch mit Jan Brachmann formuliert hat:
Der Klang von Pleyel entsprach der Ästhetik Chopins. Dieses Instrument versteht keine Gewalt. Man muss mit ihm durch die Finger sprechen, darf sich ihm nie aufzwingen und keinen körperlichen Druck durch Schultern oder Unterarme ausüben. Reines Fingerspiel ist hier gefragt. Man muss auch die Balance der Register neu lernen. Der Diskant ist sehr zart…
(„Wie spielt man Chopin?“ F.A.Z. v. 30.9.2024, S. 13)
Schon nächste Woche gibt es zahlreiche weitere Gelegenheiten, den Besuch der großen Sinfoniekonzerte der Saison mit kleinen, spannenden Klanghäppchen zu kontrastieren. Sicherlich einen Besuch wert: die musikalischen Veranstaltungen der Weinbergkirche Pillnitz, wo dreihundertjährige Kirchweih gefeiert wird. Das Abschlusskonzert des kleinen Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerbs lockt, wieder einmal im C.-Bechstein-Zentrum vorbeizuschauen. Das Gedenkkonzert des Dresdner Kammerchors mit Werken von Schütz bis Schönberg sei erwähnt. Und programmatisch interessant verspricht auch die nächste Kreuzchorvesper zu werden.