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Immer dieses Publikum von morgen

Phoenix Avalon, Adrian Steele, Joshua McClendon und Devon Moore (Foto: Oliver Killig)

Erst vor wenigen Wochen habe ich einen Text für das Magazin »Leben in der Frauenkirche« geschrieben über das Bemühen der Konzertveranstalter um ein neues Publikum – und die manchmal ärgerlichen Nebenwirkungen dieser Entwicklung. Zu denen gehört eben auch, dass ein unbedarftes Publikum mit den Gepflogenheiten klassischer Konzerte nicht so vertraut und vielleicht eher von Castingshows, von singenden Eichhörnchen, die am Ende ihren Kopf absetzen etc., medial geprägt ist. Dort gelten spontane Applausreaktionen vor, während und nach den Auftritten der Künstler quasi als Maß für die persönliche Involviertheit und weniger für die Qualität einer künstlerischen Leistung per se. Man klatscht als Beweis, dass man dem Ablauf des Abends aktiv und aufgeschlossen folgt, dass man sich „abgeholt“ fühlt. Wo klassische Konzertbesucher in Satzpausen gern auf Applaus verzichten, um den Spannungsbogen eines mehrsätzigen Werks nicht zu unterbrechen, scheint bei diesem neuen Publikum der Moment der Stille, wenn die Musiker einmal gemeinsam den Bogen absetzen und die Noten umblättern, schwer erträglich, ja peinlich zu sein. Man vergewissert sich und zeigt dem Nachbarn durch spontanes Klatschen quasi, „dass man noch dabei ist“, und dass einem der Abend immer noch gut gefällt.

Der stets pointiert provozierende Axel Brüggemann meinte zu dem Thema, es sei wohl eine Mischung aus Dummheit und Egoismus, die das Publikum dazu treibe, möglichst vor allen anderen aufzuspringen und den Musikern lautstark Beifall zu spenden. Seine Erklärung: „Wer Klassik als Tourismus verkauft, darf sich nicht beschweren, wenn die Touristen von der Mona Lisa nur ein Instagram-Foto aufnehmen wollen.“ Mit der neuen Strategie der Veranstalter, klassische Musik erreichbar und niederschwellig als Genussmedium anzubieten, kauft man sich eben auch die Begleiterscheinungen dieser Entwicklung mit ein. Was Axel Brüggemann nur in einem kurzen Nebensatz anklingen lässt: zu Zeiten der Wiener Klassik war begeistertes Reinklatschen (und das Niederzischen der Nachbarn an leisen Stellen!) eher die Normalität, wurde teils sogar vom Komponisten eingeplant, wie wir etwa einem Brief von Wolfgang Amadeus Mozart entnehmen können. Wolfgang schrieb am 3. Juli 1778 aus Paris an seinen Vater Leopold über die Uraufführung seiner »Pariser Sinfonie«: „Die Sinfonie fing an, und gleich mitten in ersten Allegro war eine Passage, die ich wohl wußte, daß sie gefallen müßte. Alle Zuhörer wurden davon hingerissen – und es war ein großes Applaudissement (…) Das Andante gefiel auch, besonders aber das letzte Allegro – weil ich hörte, daß hier alle das letzte Allegro wie das erste mit allen Instrumenten zugleich und meistens unisono anfangen, so fing ichs mit den 2. Violinen allein im Piano nur acht Takte an – darauf kam gleich ein Forte – mithin machten die Zuhörer, wie ichs erwartete, beim Piano „Sch!“ – dann kam gleich das Forte – das Forte hören und in die Hände zu klatschen war eins!“

Eine kurzweilige Anmoderation wie die des Bratschers Devon Moore hilft dabei, zeitgenössische Werke aufzuschließen. Durchaus wäre auch eine humorvolle Bemerkung zu allzu exzessivem Klatscherverhalten angemessen gewesen, meine ich (Foto: Oliver Killig)

Nun hat das noch junge erst 2019 gegründete Isidore String Quartet sich auf die Fahnen geschrieben, ein Publikum anzusprechen, das – aus welchen Gründen auch immer – „nur begrenzten Zugang zu hochwertigen Live-Konzerten“ hat. Damit sind wahrscheinlich eher Hörer ohne große musikalische Sozialisierung gemeint und weniger musikferne Chefärztinnen, die schlicht keine Zeit haben, ins Konzert zu gehen. Dass die vier Musiker mit dieser Idee die offenen Türen der „Audience Building“-Beauftragten einrennen, versteht sich von selbst. Zumal sie das „alte Repertoire“ gern aufmischen mit zeitgenössischen Beiträgen, Verhältnisse herstellen und neue Kontexte setzen. Absolut sinnvoll war also die kleine, kurzweilige Werkeinführung des Bratschers Devin Moore zu Billy Childs Streichquartett »Unrequited«: es ist gerade für ein nicht so musikerfahrenes Publikum viel einfacher, ein Stück für sich aufzuschließen und sich „zu connecten“, wenn ein Ensemble oder ein Dirigent diesen Entdeckungsprozess ein bisschen anmoderiert und den Ohren und dem Hirn die ungefähre Fahrtrichtung vorgibt.

Vielleicht wäre diese Moderation an diesem Mittwochabend sogar am Anfang des Konzerts nötig gewesen, auch wenn man zum Konzertbeginn ja lieber die Musik sprechen lässt. Aber wenn ein nun nicht gerade sperriges, aber doch anspruchsvolles Werk wie das »Dissonanzenquartett« auf dem Programm steht, wäre es durchaus eine Überlegung wert, ob nicht ein selbst cellospielender Intendant wie Jan Vogler, der am Abbau von Hörbarrieren ja seit Jahren dran ist (und auch anwesend war) in Erwartung eines heterogenen Publikums einfach kurz die Künstler begrüßt und vielleicht humorvoll darauf hinweist, dass im Saal auch einige alte Klassikdinosaurier sitzen, die ein Streichquartett am liebsten völlig allein genießen würden und sich durch Zwischenapplaus aus ihrer Meditation gerissen fühlen.

Ich saß nun gerade neben zwei dieser Dinos und durfte nach jedem Zwischenapplaus frustriertes Kopfschütteln und zwei kleinere vokale Wutausbrüche ertragen. Und ich kann die beiden Klassikfans ja auch verstehen. Da kauft man sich schon Karten in der besten Kategorie, freut sich wochenlang auf diesen Abend, schätzt den intellektuellen (!) Zugriff der Interpreten auf Mozart und Dvořák – denn die Isidore-Jungs setzten beileibe nicht auf böhmische Heimeligkeit, sondern sezierten die Musik geradezu, was in den langsamen Sätzen an die Grenze zum völligen Stillstand der Musik führte –, und dann lassen sich einige wenige Zuhörer auch durch mehrfaches Zischen und andere Unmutsäußerungen nicht davon abhalten, IMMER WIEDER DAZWISCHENZUKLATSCHEN.

Gern hätte ich mich mit meinen Nachbarn nach dem Konzert darüber unterhalten, ob sie dieses achtsame Sezieren bei diesem Repertoire als angemessen empfanden. Ob Phoenix Avalon in ihren Ohren die Qualitäten eines Primarius hat, der sein Quartett in allen Aspekten der Artikulation, des Vibratos etc. voll auf Linie bringt, wie ich es etwa kürzlich in Leipzig bei vier Abenden des Quatuor Danel erleben konnte. Ich habe das bei diesem Quartettabend vermisst, aber vielleicht steckt es ja einfach im Ansatz des Isidore, vier gleichberechtigte Stimmen demokratisch zu Wort kommen zu lassen. Und ich hätte ihnen auch gesagt, was ich im Frauenkirchen-Magazin schrieb: „Wenn zwischen den Sätzen geklatscht wird, müssen Sie ja nicht unbedingt einstimmen. Aber grollen Sie den Klatschern nicht, sondern seien Sie innerlich vergnügt und erleichtert: Sie sitzen in einem Konzert, das ganz offensichtlich den Weg zu einem Publikum von morgen erfolgreich eingeschlagen hat.“ Die Musikfestspiele sind auf diesem Weg schon eine weite Strecke gegangen und anderen Dresdner Veranstaltern weit voraus. Aufpassen müssen sie vielleicht, dass das klassische Klassikpublikum nicht irgendwann schmollend am Wegrand sitzenbleibt…

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