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»“Einfach gut gespielt“ reicht heute nicht mehr«

Foto: Marco Grob

Herr Vogler, wir sind in einer paradoxen Situation: Putin führt Krieg – und klassische Komponisten wie Peter Tschaikowski werden dafür von den Konzertprogrammen genommen. Die russische Cellistin Anastasia Kobekina, die auch in Dresden eingeplant ist, erhielt allein wegen ihrer Nationalität Konzertabsagen. Wie passt das zusammen?

Gar nicht. Wir müssen da sehr genau differenzieren. Erinnern wir uns an die Zustände in der DDR. Als Künstler durfte ich damals in den Westen fahren. Mein Visum musste ich in Berlin abholen; wenn die jeweilige Sachbearbeiterin gute Laune hatte, ging alles glatt mit der Reise. Stellen Sie sich vor, im Westen hätte man mir dann gesagt: So, jetzt distanzier dich doch mal von der DDR. Für die Musiker gilt: Sie bauen Brücken. Russische Kollegen von unseren Konzerten auszuschließen, halte ich daher für falsch. Gerade die drei Preisträger des Tschaikowski-Wettbewerbs, die bei uns auftreten werden, darunter Anastasia Kobekina. Das sind einfach fantastische junge Cellisten, die den wohl vorerst letzten wirklich internationalen Tschaikowski-Wettbewerb gewonnen haben. Warum sollten die jetzt nicht mehr auftreten dürfen?

Sie selbst waren vom Schirmherren Gergiev damals in die Cello-Jury eingeladen worden, der auch Mischa Maisky oder Daniel Müller-Schott angehörten. Sie haben den Wettbewerb dann zweimal als Juror miterlebt. Ist es richtig, dass die Mitglieder des Weltverbandes internationaler Wettbewerbe ihn nun am 19. April „wegen Russlands brutalem Krieg und seinen Gräueltaten in der Ukraine“ ausgeschlossen haben?


Musiker wie Gergiev und seine Projekte werden im Moment berechtigterweise in politische Sippenhaft genommen. Aber ich weiß nicht, ob es klug war, den Wettbewerb international zu ächten. Es ist doch eine Chance, in Verbindung zu bleiben, auch in schlimmsten Eiszeiten. Wir Dresdner haben St. Petersburg als Partnerstadt. Sollten wir uns wirklich davon verabschieden? 

„Das sind einfach fantastische junge Cellisten, die den wohl vorerst letzten wirklich internationalen Tschaikowski-Wettbewerb gewonnen haben.“ Anastasia Kobekina (Foto: Julia Altukhova)

Ich würde auch hier dafür plädieren, Brücken zu bauen. Was war das für ein Moment, als der junge, blondgelockte Texaner Van Cliburn 1958 den allerersten Tschaikowski-Wettbewerb gewann. Das russische Publikum jubelte einem Amerikaner zu, mitten im Kalten Krieg! Das war doch ein solcher Brückenbau. Sollen wir jetzt wegen Putins Krieg die russischen Sportler von den Paralympics ausladen? Ich habe darauf noch keine richtigen Antworten. 

Die Musikfestspiele haben zu ihrem »Russlandia«-Jahrgang Valery Gergiev den Glashütte Original Musikfestspielpreis verliehen, Sie selbst oft und gern mit dem Dirigenten zusammen musiziert; er dirigierte 2019 das Mariinski-Orchester bei Ihrer Aufnahme des zweiten Schostakowitsch-Konzerts. Wann haben Sie denn das letzte Mal Kontakt zu ihm gehabt?

Das war weit vor Ausbruch des Krieges. Ich habe seitdem immer gehofft, dass er eine Rolle übernehmen könnte, wie Kurt Masur sie 1989 bei den Montagsdemos hatte. Leider ist diese Hoffnung bislang enttäuscht worden. Aber am Ende könnte es eine Künstlerpersönlichkeit wie er sein, die gerade auch im Land selbst für eine Kurskorrektur wirbt.

Dann lassen Sie uns zur Kultur kommen. Zwei Jahre lang lag sie so gut wie brach. Wie rappeln sich die Musikfestspiele jetzt wieder auf? Wie haben Sie den Neustart erlebt?


Es sind ja immer drei Elemente, die da miteinander funktionieren müssen, wenn wir von einem Festival wie den Musikfestspielen oder dem Moritzburg Festival reden. Das ist das Trio Team-Künstler-Publikum. Unser Team braucht den Austausch mit beiden Partnern. Während wir hier sitzen, klingelt im Nebenzimmer pausenlos das Kartentelefon; endlich dürfen wir uns wieder dem Publikum präsentieren! Diese ganzen Entwicklungen reißen mich, ja uns alle unheimlich mit. Wir wollen die Monate der Stagnation endlich aufholen. Meine Kollegen arbeiten dafür sehr hart. Und auch das Publikum reagiert enthusiastisch auf die Öffnung. Im März waren wir schon ausverkauft und hatten lange Wartelisten. Jetzt dürfen wir auf volle Kapazität öffnen, so dass es für viele Konzerte wieder Karten gibt.

„Wir werden uns wieder bewusst, wie existentiell Konzerterlebnisse sind.“ Foto: Timor Raz

Ich habe das Gefühl, dass das Publikum seit der Corona-Krise deutlich wählerischer und insgesamt anspruchsvoller geworden ist.

Richtig! Tatsächlich hat Corona diese Entwicklung ausgelöst: Wir alle haben wieder Lust rauszugehen. Gutes Essen, Theatervorstellungen, Konzerte, Weltmusik, das alles lockt nun wieder, wir müssen gut auswählen. Und da stellen wir fest, dieser Anspruch des Publikums trifft sich mit unserem Anspruch, verzaubern zu wollen. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Ein Dresdner Pärchen ist noch von der Arbeit gestresst, schafft es grade rechtzeitig in den Kulturpalast. Stirnrunzeln bei ihren Sitznachbarn, als sie im letzten Moment auf ihre Plätze schlüpfen. Aber dann! Im besten Fall werden sie in eine Fantasiewelt entführt und wahrlich verzaubert. Nach so einem Konzert sind die Mundwinkel einfach magisch nach oben gezogen und die Augen glänzen. So einen Abend vergisst man nicht. Wir brauchen diese Momente dringend.

Und wie nehmen die Künstler den Neustart wahr?


Ganz ähnlich. Wir werden uns wieder bewusst, wie existentiell Konzerterlebnisse sind. Konzerte sind heute für alle da, egal wie viel Vorwissen da ist. Wir sind verpflichtet, die Geschichten noch mal ganz von vorne zu erzählen, ohne dass die Qualität leidet.

Ist diese Verpflichtung der Grund, warum Sie seit Jahren auch klassikfernere Künstler wie dieses Mal etwa den quirligen Jazz-Star Jamie Cullum zu den Festspielen eingeladen haben?


Ja, warum sollte es da Beschränkungen geben? Wir sind doch nicht die »Dresdner Klassikfestspiele«! Sting zum Beispiel, der ist doch ein echter Rocker und natürlich trotzdem bei uns willkommen! Wir hatten ihn ja schon programmiert, nächstes Jahr klappt es vielleicht, dass er sein ausgefallenes Konzert nachholt. In Genre-Beschränkungen sehe ich überhaupt keinen Vorteil. Wir haben in Dresden ein sehr großes Klassikpublikum: Um die 100.000 Menschen haben Erfahrung mit klassischer Musik. Mein Bedürfnis ist es, die Musik auch den restlichen Dresdnern näherzubringen. Jamie Cullum, Martin Grubinger erreichen ein breites Publikum, und das ist ein Geschenk für uns. Wir haben zum Beispiel einige Hörer von Eric Clapton „geerbt“, weil sie sich nach seinem Konzert in die Musikfestspiele verliebt haben. Hier elitär zu bleiben, wäre nicht der richtige Weg.

Wer im 2022er Programm blättert, der bleibt bei den vielen herausragenden Cello-Namen und -Konzerten hängen. Sie haben ja quasi die internationale Crème de la Crème Ihres Instruments eingeladen.


Wir haben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, aber tatsächlich wird ein großer Teil der führenden Cellisten der Welt in Dresden bei der »Cellomania 2.0« zu Gast sein. Unsere Szene ist sehr persönlich, eng vernetzt. Sol Gabetta war schon einmal in Moritzburg dabei, ebenso Nicolaus Altstaedt, Christian Poltéra oder Daniel Müller-Schott. Cellisten sind keine Sektierer; die sind lustig, wollen mit Kollegen zusammen sein. Bei der ersten Cellomania hieß es noch: sechs Bachsuiten, sechs Cellisten. In diesem Jahr hat fast jeder Cellist sein eigenes Konzert. Darunter ist persische Musik, Jazz, drei Cellisten – Nicolas Altstaedt, Edgar Moreau und Pieter Wispelwey – widmen sich den Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Konzerten. Sol Gabetta spielt ein Recital im Kulturpalast, ich selbst das Dvořák-Konzert. Jeder einzelne von uns hat die Aufgabe, eine andere Facette des Cellos zu beleuchten. Die Konzerte sind sehr beliebt. 

Wie werden sich die Dresdner Musikfestspiele in Zukunft weiterentwickeln?


In Dresden haben wir nach einer inzwischen fast 45-jährigen Geschichte eine hohe Präsenz. In den letzten Jahren vor der Pandemie haben wir das Publikum ausbauen können. Unsere nächste Aufgabe müsste sein, dass wirklich jeder Mensch an diesen Musikfestspielen teilhaben möchte und kann. Das ist eine Vision, an der ich schon lange arbeite. Formate wie die »Klingende Stadt« haben noch extremes Potential und Dresden ist eine enorm begabte Festivalstadt. Die Stadt hat ein kleines Zentrum mit vielen Spielstätten, fast alle fußläufig zu erreichen; daneben fantastische Museen, Restaurants und Cafés. Die ganze Mischung halte ich für sehr, sehr selten. Nennen Sie mir mal eine weitere Stadt, die so gut aufgestellt ist! Ich kenne keine zweite. Wir wollen dieses Jahr einfach mit viel Enthusiasmus an die bisherigen Erfolge anknüpfen.

Und wohin geht die Reise für Sie als Cellist, als Künstler demnächst?


Ich nenne mal zuerst das Album mit Omer Meir Wellber und dem BBC Philharmonic, das am 6. Mai erschienen ist; und auf dem ich die Geschichte des Pop-Songs erzählen möchte. Omer ist ein sehr guter Freund, wir haben schon viel zusammen musiziert. Irgendwann kam die Idee ins Spiel: Ich wollte immer schon mal ein Opernalbum machen. Das Cello kann vier Stimmlagen abdecken: Bariton, Tenor, Alt und Sopran; das kann keine menschliche Stimme. Omer und ich haben dann viel diskutiert. Ich sagte, Michael Jackson zum Beispiel, diese Musik kommt doch aus der Oper! Vivaldi, Gluck, Bellini, Gershwin, die Beatles, das gehört alles in eine Reihe. So präzisierte sich die Idee, die Geschichte von Monteverdi bis Michael Jackson zu erzählen. Omer war begeistert, er sagte, lass uns Werke suchen, die zu ihrer Zeit Hits waren. Wir stellten eine Playlist zusammen und haben die Werke mit dem extrem vielseitigen BBC Philharmonic Orchestra aufgenommen.

„Wir sind doch nicht die »Dresdner Klassikfestspiele«!“ Jamie Cullum (Foto: Danny North)

Überhaupt ist meine ständige Überlegung: Wie kann man neue Klänge, neue Farben auf dem Cello entdecken? Wiederholung ist nicht so interessant für mich. Vom CD-Projekt abgesehen, plane ich eine große Uraufführung mit Kent Nagano, es stehen weitere Duoabende mit Hélène Grimaud an. Mit Fabio Luisi mache ich den »Don Quixote« in Dallas. Es kommen auch neue Stücke: Auf Anregung meines spanischen Freundes Josep Caballé-Domenech studiere ich zum Beispiel ein Werk von Enrique Casals ein. Herrlich ist auch die Arbeit mit jungen Musikern; in New York haben wir dieses Jahr ein ganzes Dvořák-Kammermusikalbum aufgenommen. Das kommt zum Moritzburg-Festival heraus. Die junge Musiker-Generation hat es doch nach Corona extrem schwer. Moritzburg wird sich zukünftig noch stärker auf den Generationsaustausch konzentrieren.

Was mich auf meine letzte Frage bringt: das ganze Musik-‚Business‘ scheint, ausgelöst durch die Krise, momentan ganz neue Wege einzuschlagen. Die Dirigentin Alondra de la Parra, bisher unter Vertrag bei der Agentin, bei der auch Sie unter Vertrag sind, hat kürzlich eine GmbH gegründet und nimmt ihr Agenturgeschäft quasi selbst in die Hand. Ist das eine Entwicklung, die wir öfter beobachten werden?

Tatsächlich habe ich das inzwischen schon von mehreren Künstlern gehört. Alondra ist eine unglaublich kreative Künstlerin, sie hat eine wahnsinnige Energie, gerade hat sie ein neues Festival in Mexiko gegründet. Ich glaube, es kommt immer darauf an, dass ein klassischer Musiker Lust auf neue Wege hat. „Einfach gut gespielt“ reicht heute nicht mehr. Das Publikum gilt es abzuholen und nach dem Konzert wieder sanft abzusetzen. Die Hörer wissen nämlich ganz genau, ob sie an dem Abend etwas Besonderes erlebt haben. Dafür braucht es neue Konzepte, neue Komponisten. Miloslav Kabeláč zum Beispiel, dieser aufregende tschechische Komponist wird gerade weltweit wiederentdeckt. Wir müssen den jungen Musikern erklären, die natürlich alle mit Saint-Saëns oder ähnlichem glänzen wollen, dass sie nicht mehr die alten Wege gehen dürfen. Von ihnen wird extrem viel Innovation verlangt.

Vielen Dank für Ihre Geduld und das ausführliche Gespräch!

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