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Berührende Klangkorrespondenzen

Meine letzte Reise diesen Sommer ging nach Bukarest. Einziger Schock bei der Ankunft: es ist Mitte September, und es ist kalt! Fünfzehn Grad in Bukarest, ganz ungewöhnlich. Aber das bleibt die einzige und vor allem kurzfristige Enttäuschung. Schon am nächsten Tag steigen die Temperaturen, und ich kann mich in gewohnter, sommerlicher Stimmung von einem musikalischen Höhepunkt zum anderen begeben. Denn auch das diesjährige 22. Festival „George Enescu“ ist eines der Superlative.

Ein Jahrgang der Superlative – der letzte? (Foto von Juri Temirkanov: Catalina Filip)

Mitunter sind die Pausen zwischen den Konzerten knapp. Die Wege glücklicherweise auch: meistens zwischen dem historischen Konzertsaal Atenaeum und dem großen oder kleinen Saal des riesigen Kulturpalastes. Es geht gar nicht anders; auf dem Weg vom Hotel zum Atenaeum muss ich mich entscheiden, entweder einen Espresso in einem der vielen neuen kleinen Cafés, und selbst da geht es nicht ohne Entscheidung, denn Espresso ist hier nicht gleich Espresso, ich muss wählen, mindestens drei oder vier Angebote exotischer Mischungen oder besonderer Röstungen werden angeboten. Oder – ebenfalls am Wege – ein kleines französisches Café im einstigen Paris des Ostens mit verführerischen supersüßen Miniaturen. Einmal pro Tag, das muss reichen.

Wenn mir zwischen den Konzerten weder nach Kaffee oder Leckereien der Sinn steht, sondern ich Augenblicke der Ruhe oder auch mal der kurzen Kontemplation mag, dann stehen auf diesem kurzen Weg immerhin zwei der wenigen nicht in sozialistischen Zeiten abgerissenen Orthodoxen Kirchen, eine sogar mit einem kleinen Garten. Aber den ersehnten Augenblick der Ruhe gibt es am Wochenende so gut wie gar nicht. In kürzesten Abständen drängen sich Gäste in die Gotteshäuser. In knappen Abständen werden Kinder getauft, und es wird geheiratet, am laufenden Band! Mitunter dann doch einige Klänge der orthodoxen Gesänge, und dann geht es weiter, zum nächsten Konzert…

Auf dem großen Platz am Atenaeum, den ich jeden Tag mehrmals passiere, finden tagsüber und am Abend Konzerte unter freiem Himmel statt. Musikschüler oder Studenten treten auf, einmal verpasse ich knapp den nächsten Termin, denn dem exzellenten Spiel des Blechbläserquartetts des Rumänischen Rundfunks möchte ich eigentlich so lange wie möglich zuhören. Noch am späten Abend, die Temperaturen sind jetzt wieder sommerlich, sitzen Unentwegte bei Filmvorführungen und lauschen Konzertmitschnitten aus aller Welt. Das Glück unterm Bukarester Himmel wäre für Momente fast perfekt – wäre nur der hier zu bekommende Wein in den unvermeidlichen Plastebechern bekömmlicher! Aber das ist ein paar Schritte weiter schon anders. Man sitzt bis spät in die Nacht vor einem Café, der rote Wein aus Rumänien hat es in sich, die herzhaften Snacks dazu sind köstlich.

Und wenn hier die Lokale schließen, dann bleibt ja noch das Bukarester Szeneviertel, das „Leipziger Viertel“ an der alten Handelsstraße. Da gibt es keine Schließstunde: hier kann man tief in bequeme Sessel sinken, die flanierenden Passanten beobachten, einen guten Wein trinken und die musikalischen Ereignisse eines Tages Revue passieren lassen.

Ein Jahrgang der Superlative

Alle zwei Jahre befindet sich die rumänische Hauptstadt im September in einem musikalischen Ausnahmezustand. An 22 Tagen, mehr als 60 Konzerte und Aufführungen der Rumänischen Nationaloper, selbstverständlich auch „Oedipe“ von George Enescu. Die lasse ich aber in diesem Jahr mal aus; ich hatte vor zwei Jahren die Premiere der Neuinszenierung gesehen. Ich genehmige mir den Nachklang dieses wunderbaren Werkes zu Hause mit der Aufnahme von 1964 aus Bukarest unter Mihai Bredicianu, auch mit dem  Bariton Dan Iordăchescu in der Partie des Creon, den ich in jungen Jahren an der Berliner Staatsoper hörte, mit dem ich einen Opernquerschnitt von Verdis „Don Carlos“, erschienen 1971 bei Eterna, hüte. Iordăchescu ist am 30 August dieses Jahres im Alter von 85 Jahren verstorben.

Für das Publikum ist das hochsubventionierte Festival die Gelegenheit, internationale Klassikgrößen an sich vorbeidefilieren zu lassen (Foto: Catalina Filip)

Zurück in die Gegenwart. Es fiel in diesem Jahr nicht leicht, den Termin meiner Reise nach Bukarest zu bestimmen. Letztlich waren die Termine zweier konzertanter Opernaufführungen entscheidend, beides Erstaufführungen für Rumänien, beides Schlüsselwerke des Musiktheaters im 20. Jahrhundert, und wie sich auch in Bukarest erwies, weit darüber hinaus. Daneben bleibt der wehmütige Blick auf die verpassten Chancen, denn wieder einmal überließ ein berühmter Klangkörper dem nächsten das Podium, machte ein bedeutender Dirigent dem anderen das Pult frei.
Andris Nelsons, designierter Chef des Leipziger Gewandhausorchesters, dirigierte zum Festival-Finale das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam und führte mit der zweiten Rumänischen Rhapsodie eines der bekanntesten Werke von Enescu auf, der von 1881 bis 1955 lebte, und zu dessen Ehren dieses Festival stattfindet.

Am Tag zuvor hatte Nelsons mit dem gleichen Orchester die siebte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch aufgeführt. Enescu starb vor 60 Jahren, Schostakowitsch vor 40; ein Anlass für die Festivaldramaturgie, die Werke beider Komponisten auf vielfältige Weise korrespondieren zu lassen. Dazu gab es eine eigens konzipierte Reihe, „Enescu und Zeitgenossen“, in der mich besonders das Konzert des jungen Kammerorchesters Republik Moldawien unter der Leitung von Cristian Florea damit beeindruckte, wie es Bartók und Enescu in einen musikalischen Dialog brachte. Unglaublich, dass Enescus Oktett für Streicher op. 7 schon erklang, bevor Schönbergs „Verklärte Nacht“ uraufgeführt wurde!

Das Aoede Streichquartett mit dem Pianisten Alfredo Perl begeistere mich am gleichen Ort einen Tag später ebenfalls zum musikalischen Auftakt des Tages mit Schostakowitschs viertem Streichquartett, überraschte darauf mit dessen so witziger wie hintersinniger Theatersuite „Hamlet und die menschliche Komödie“, um abschließend mit dem Klavierquintett op. 29 ein Werk von Enescu vorzustellen, in dem sich der Übergang des Komponisten von impressionistischen Einflüssen in die tonalen Möglichkeiten der Moderne nachvollziehen lässt.

Werke von Enescu, Schostakowitsch und Gustav Mahler, der vor 155 Jahren geboren wurde, fanden sich auch in den Programmen der Spitzenorchester der Welt, die mit den namhaftesten Dirigenten und Solisten, die an 22 Abenden das Publikum im riesigen Saal des großen Kulturpalastes begeisterten. Alle waren da: Zubin Mehta dirigierte das Israel Philharmonie Orchestra, Sir Simon Rattle die Berliner Philharmoniker, darauf stand Christian Thielemann an zwei Abenden am Pult der Staatskapelle Dresden. Auf Michael Tilson Thomas mit dem San Francisco Symphony Orchestra folgte Ion Marin mit dem London Symphony Orchestra; und Semyon Bychkov leitete zwei Konzerte mit den Wiener Philharmonikern.

Bis zum letzten Platz und darüber hiansu ausverkauft: das Konzert der Berliner Philharmoniker (Foto: Andrei Gindac)

Zu einem ergreifenden Erlebnis wird die Aufführung der zehnten Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, an meinem ersten Abend, dem 11. September, im großen Saal des Kulturpalastes mit seinen 3000 Plätzen – ausverkauft – unter der Leitung von Yuri Temirkanov mit der Philharmonie aus St. Petersburg. Zum Abschluss seiner Europa-Tournee beschert dieser Klangkörper dem Bukarester Festival ein russisches Programm, in dem Valery Sokolov, Preisträger des internationalen George Enescu Wettbewerbs vor zehn Jahren, den Solopart in Tschaikowskis Violinkonzert spielt. Ist hier, besonders in der Sinfonie von Schostakowitsch, der dichte, dunkel grundierte Klang der großen Streicherbesetzung im Zusammenklang mit den machtvollen Passagen der Bläser bei sparsamster Zeichengebung des Dirigenten zu bewundern, so muss man angesichts des Dirigats eines Maestros vom Range Constantinos Carydis geradezu von einer choreografischen Meisterleistung sprechen, auf die die Musiker des Bayerischen Staatsorchesters, am nächsten Abend, am gleichen Ort, wieder bei ausverkauftem Saal, bestens zu reagieren wissen.

So gibt es hier eine so verblüffende wie zutiefst berührende Klangkorrespondenz zwischen Enescu und Schostakowitsch bei der Aufführung des sinfonischen Poems „Isis“ von Ersterem und der in sich so widersprüchlichen wie aufwühlenden fünften Sinfonie des Letzteren mit ihren beängstigenden Passagen aus dem Jahre 1937.

In der ausgesprochen beliebten Reihe der Mitternachtskonzerte im historischen Konzertsaal des Bukarester Atenäums, wo auch George Enescu als Dirigent und Violinvirtuose gefeiert wurde, überlassen die besten Ensembles und Solisten der internationalen Barockszene einander das Podium, vor allem die konzertanten Opernaufführungen begeistern das Publikum. Der Andrang ist mitunter so groß, das zusätzliche Plätze geschaffen werden und junge Leute auf Treppen sitzen oder in den Gängen stehen. Da begeistert The King´s Consort mit Purcell, Britten und Händel,  Il Pomo D´Oro mit Max Emanuel Cencic und Franco Fagioli führt Leonardo Vincis „Catone in Utica“ auf, Orchestra and Choir of the Age of Englightenment Händels Oratorium „Saul“. Ian Bostrigde singt die Titelpartie in Monteverdis „il ritorno d´Ulisse in patria“ und The Academy of Ancient Music führt zum Abschluss dieser Reihe Monteverdis „L´incoronazione di Poppäa“ auf.

Im Atenaeum erlebte ich in diesem Jahr zunächst, unmittelbar nach der Anreise, mit kurzer Pause im Hotel und erstem Espresso, das Berliner Konzerthausorchster unter der Leitung des rumänischen Dirigenten Horia Andreescu. Ob es daran lag, dass ich noch nicht gänzlich angekommen war, oder daran, dass der Pianist Rudolf Buchbinder buchstäblich in letzter Minute per Hubschrauber eingeflogen wurde, um für den erkrankten Arcadi Volodos den Part des Solisten im zweiten Klavierkonzert von Johannes Brahms zu übernehmen: so recht überzeugen konnte mich diese Interpretation nicht. Anders dann im zweiten Teil, Dvoraks Sinfonie „Aus der neuen Welt“. Die gelang unter dem tänzerisch-temperamentvollen Dirigat überzeugender. Der erste Tag klang aus mit meinem ersten von zwei Mitternachtskonzerten im Atenaeum, Bach zur Nacht, Werke von Johann-Sebastian, Wilhelm-Friedemann und Carl-Philipp-Emanuel wurden unter der Leitung von Sir Roger Norringten mit dem Orchestre de Chambre de Paris lustvoll und doch im Maß musiziert.

Michael Volle als Wozzeck (Foto: Andrej Gindac)

Ein anderes Ensemble aus Frankreich, ebenfalls im historischen Konzertsaal, der zunächst Ende des vorletzten Jahrhunderts als Zirkus- und Varietee-Theater eröffnet wurde, was noch heute unübersehbar ist, brachte mit seinem ersten Konzert am Nachmittag des 13. September das Publikum zum Rasen. „Les Dissonances“ heißt dieses Kammerorchester in der Besetzung eines mittelgroßen Sinfonieorchesters, und die vornehmlich jungen Musikerinnen und Musiker spielen ohne Dirigenten. Nicht ganz neu, wer erinnert sich nicht auch an die Dresdner Konzerte des Prager Kammerorchesters ohne Dirigenten. Trotzdem, es ist verblüffend, wie exakt, bei mitunter exorbitantem Tempo, insbesondere bei einem „Schlager“ wie Beethovens siebter Sinfonie, das Schicksal nicht gänzlich ohne charmantes Augenzwinkern an die Tür klopft.

Zuvor Enescu, Caprice Roumain für Violine und Orchester, 1928 komponiert, nicht vollendet, jetzt in der Orchesterfassung von Cornel Țăranu, der sichtlich beeindruckt war von der so gefühlvollen wie dann auch wieder rasanten Interpretation durch das Orchester „Les Dissonances“ mit seinem Leiter David Grimal als Solisten. Das in bestem Sinne unterhaltsame Werk nimmt Motive der Roma-Folklore auf und erinnert schon mal in seinen mitreißenden Passagen an ein so populäres Stück wie „Zigeunerweise“ von Pablo de Sarasate. Das kommt an. Wenn allerdings in der sorgsam überwachten Innenstadt, wo man so gut wie keine auffallenden Roma mehr sieht, doch jemand von ihnen im Café an den Tisch im Freien kommt und um eine Zigarette bittet und nicht abgewiesen wird, dann ist das Personal zur Stelle, und an den Nachbartischen regt sich Widerspruch. Die Widersprechenden sind nicht von denen zu unterschieden, die zuvor euphorisch Enescus Musik feierten und nicht genug davon hören konnten.

Zwei Erstaufführungen sind nicht ganz ausverkauft

Zwei konzertante Opernaufführungen am 13. und am 14. September bringen vor allem das Bukarester Publikum mit zwei Werken des 20. Jahrhunderts erstmals in Berührung. An beiden Abenden ist der große Saal nicht ausverkauft, die Anwesenden dürften allerdings ein Opernhaus wie in Dresden sicher bis auf den letzten Platz füllen.

Bayerisches Staatsorchester, Dirigent: Constantinos Carydis (Foto: Andrej Gindac)

106 Jahre nach der Dresdner Uraufführung kommt „Elektra“ von Richard Strauss mit dem Bayerischen Staatsorchester unter der Leitung von Sebastian Weigle zur Aufführung. Die Münchner erweisen sich als exzellentes Strauss-Orchester und bei den Solisten bleiben keine Wünsche offen. Elena Pankratova, die in der Titelpartie letztes Jahr in Dresden ihr Debüt gab, wird auch in Bukarest gefeiert. Zum Trio infernale der starken Stimmen gehören Agnes Baltsa als Klytämnestra und Anne Schwanewilms als Chrysothemis. René Pape singt den Orest.

Vor 90 Jahren wurde in Berlin Alban Bergs Oper „Wozzeck“ nach Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ uraufgeführt. Für die Bukarester Erstaufführung steht der britische Dirigent Leo Hussain am Pult des Orchesters der Bukarester Philharmonie „George Enescu“. Der Spannungsbogen bricht nie ab in dieser konzertanten Aufführung. Hussain kann mit diesem Orchester knisternde Spannung erzeugen, berührende Klänge von abgrundtiefer Traurigkeit wechseln mit skurrilem Witz verfremdeter Folklore und die musikalischen Aufschreie des Entsetzens lassen fratzenhafte Klanggemälde entstehen. Es braucht der üblichen Szene gar nicht: die Menschen dieses Dramas werden von der Musik getragen, umhüllt oder brutal herausgeschleudert.

Evelyn Herlitzius als Marie wartet mit einer grandiosen Leistung auf. Mit ihrem besonderen Timbre, mit geradezu lyrischen Passagen kann sie berührende Momente der eigenen Versicherung intensiv gestalten. Sie hat die mitunter geforderten harten Töne des ausbrechenden Aufschreis. Michael Volle ist Wozzeck. Er ist der Mensch, der wie ein geöffnetes Messer gehetzt durch die Welt läuft, für den der Mond ein blutig Eisen ist. Dieser Bariton dürfte derzeit zu den besten Interpreten dieser Wahnsinnspartie gehören. Sein Gesang kann Mitleid erwecken,  verstören und provozieren. Er hat die Töne der Einsamkeit, den gehetzten Gestus des Flüchtenden und jene minimalen Momente des Innehaltens, die ihn aber doch nicht aufhalten seinen mordenden, selbstmörderischen Weg zu gehen. In dieser Interpretation kommen Büchners Text und Bergs Musik zusammen. Hier werden die Fetzen zur Form, in denen das Weltganze eingeschlossen ist. Die Stille danach ist außerordentlich. Der darauf einsetzende Beifall auch.

Soweit sich diese letzte musikalische Sommerreise mit ihren überbordenden Eindrücken schon beschreiben lässt, mögen dies hier so etwas wie besonders hell leuchtende Blitzlichter der Erinnerungen und des Nachklanges sein.

Ganz selbstverständlich stellt sich die Frage angesichts eines solchen Festivals, was das denn koste und wie sicher es sei, dass es 2017 wieder eines gebe. In diesem Jahr spricht man von sechs Millionen Euro. Ob man wisse, wie es weiter gehen solle, vor allem im Hinblick auf die Finanzierung, war schon die Frage, die alle vor zwei Jahren bewegte. Immerhin, auch wenn man mit weiteren Einsparungen rechnen muss: die 23. Auflage des Festivals ist schon im Blick, die Planungen im Gange. Und so viel kann man schon wissen: es wird auch ein Festival der Oper.

Aus London kommt eine Aufführung der rumänischen Nationaloper „Oedipe“ von George Enescu, „La Damnation de Faust“ von Hector Berlioz wird es geben und ein Spitzenensemble wie „Les Arts Florissants“ unter der Leitung von William Christie bringt Mozarts „Cosi fan tutte“ zur Aufführung.

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