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Tauwetter

Dmitri Schostakowitsch schrieb seine 12. Sinfonie 1961. Nachdem er 1957 für die Elfte den Titel »Das Jahr 1905« gewählt hatte, so ist diese neue Sinfonie dem »Jahr 1917« verbunden. Es ist die Zeit, in der nach Stalins Tod und der Entmachtung des grausamen NKWD-Chefs Beria durch Chruschtschow eine politische Tauwetterperiode begann. Jewtuschenko, der sich auf Majakowski berief, also an der Aufbruchsphase der 1920er Jahre anzuknüpfen suchte, setzte literarische Akzente. Und Schostakowitsch besann sich auf jene Werke (die Sinfonien zwei bei bis vier), die von der stalinistischen Kulturbürokratie abgelehnt worden waren. Die 2. Sinfonie war 1927 dem 10. Jahrestag der Oktoberrevolution gewidmet und damals erfolgreich auf dem Leningrader Marsfeld vor einer Massenversammlung uraufgeführt worden. Die Dritte suchte eine Maidemonstration fast filmmusikalisch zu erfassen.

In einer Zeit, in der Erinnerungen wieder lebendig wurden, entstanden die beiden Revolutions-Sinfonien, die Elfte und die Zwölfte. Noch lebte neue Hoffnung. Schostakowitsch ließ sich zum 1. Sekretär des Komponistenverbandes wählen, trat sogar – alle Anfechtungen der 1930er und 1940er Jahre abschreibend – der KPdSU bei. Aus diesem Geist heraus entstanden die Revolutions-Sinfonien. Der bildhaft plastischen Anlage der Elften unter Einbeziehung von Liedern der Bauern und Proletarier steht in der Zwölften mehr eine verallgemeinernde Gestaltung revolutionärer Entwicklung im Mittelpunkt. Zwar wurde das Werk als „Lenin-Sinfonie“ bezeichnet („dem Andenken Wladimir Iljitsch Lenins gewidmet“), aber direkte Hinweise auf Lieder der Revolution gibt es nicht. Im Vorfeld des XXII. Parteitags der KPdSU fand die Uraufführung in Leningrad und dann in Moskau statt. Satztitel verweisen auf das Jahr 1917 hin: „Das revolutionäre Petrograd“ – „Rasliw“ – „Aurora“ – „Morgenröte der Menschheit“. Aber wenn man dem Werk lauscht, erkennt man bald, dass hier eine gewaltige Fantasie sinfonischen Ausmaßes gestaltet ist, die aus einem Kernmotiv in vielfältigen Varianten entwickelt wird.

Michael Sanderling konnte als Dirigent genau diese Entwicklung spannungsvoll herausarbeiten. Gebannt lauschte man den Varianten dieses Motivs, das sich allmählich herausschält und zu einem revolutionären Marsch von Mahlerschen Dimensionen wächst. Voranstürmend wirkt es am Anfang. In einem zweiten Satz (ohne Pause übergehend) ist es nachdenklich, zurückhaltend gefasst. Aber immer wieder drängt das Kernthema zu neuen Varianten. Mit Schlagzeugattacken wird ein dritter Teil eröffnet, der am Anfangsmarsch ansetzt und Höhepunkt und Wende akzentuiert. Vielleicht erscheint manches in diesem und dem vierten Satz etwas laut und vordergründig, aber das Einbeziehen des Kernthemas auch in hymnischer Fassung gibt dem Ganzen eine innere Geschlossenheit, die Sanderling spannungsvoll vorzustellen vermochte. Man war gebannt, mitgerissen von dem Orchestercrescendo dieses großartigen Werkes.

Was hier mit der Wirkung des Saales und seiner Akustik überzeugend herüberkam, zeigte in dem anderen d-Moll-Werk des Abends: Mozarts Klavierkonzert KV 466, dem so genannten »Don Giovanni«-Konzert von 1785, die Tücken des neuen Saals. Zwar war mit dem Pianisten Herbert Schuch ein Solist von Format gewonnen, der das Werk virtuos vorstellte, aber die Geschlossenheit von Klavier und Orchester wollte sich nicht einstellen. Sobald Forte- oder gar Fortissimo-Passagen erklangen, verschärfte sich der Ton klirrend. Das traf auch die Bläser (vor allem die Oboen) des Orchesters. Vielleicht sollte man bei einer so durchsichtigen Instrumentation die Lautstärke angleichen und weniger auf Dynamik orientieren? Welch hervorragender Pianist Herbert Schuch war, zeigte sich in den interessanten Kadenzen und der ausdrucksstarken Zugabe mit einer d-Moll-Fantasie von Johann Sebastian Bach.

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