Website-Icon Musik in Dresden

Die ganze Monstertragödie in einem Kopf – David Martons Lulu-Experiment am Schauspielhaus

Ein Studio, abgewetzt und schmuddelig, hat Alissa Kolbusch auf die Bühne des Schauspielhauses bauen lassen. Ein Welttheater mit oberen und unteren Regionen. Ganz oben in der Regiekabine der Typ an den Reglern. Darunter das Feld der Bewährung, probieren, wiederholen, scheitern, aus der Rolle und wieder hinein fallen. Eins tiefer die Musik, links Piano und Schlagzeug, rechts Elektronik mit Tasten, noch tiefer der Knecht des Obersten mit allen Geräuschen der Technik oder der Natur im Mund. Vorn, und ganz nahe am Publikum, ein verschlissenes Sofa für die Verschnaufpause kurz vor der Hölle.

 

Links führt eine rote Treppe von oben herab in die Tiefe, von einem Nichts in das andere. Wenn es im Saal langsam dunkel wird, hören wir das leise Schluchzen einer Frau. Die Schauspielerin Lilith Stangenberg im knappen rosa Kleidchen auf hohen roten Stöckeln, zum Erbarmen, ein verlorenes Sterntaler-Kind, ausgesetzt und stehen gelassen. So kommt Lulu in diese Welt. Eine Hörspielprobe, ein Versuch. Wir werden es im Verlauf der nächsten zwei Stunden nicht immer auseinander halten können, wann etwas probiert wird, wann aus dem Spiel Ernst wird und wann so gespielt wird. Wir werden auch manchmal die Personen nicht immer gleich auseinander halten können, die da aus dem Personal der Monstertragödie von Frank Wedekind und aus dem Libretto der Oper von Alban Berg durch die von der Außenwelt hermetisch abgeschlossenen Labyrinthe dieses Studios irren. Manchmal tauschen sie ihre Stimmen, sie sprechen Sprachen, die es gar nicht gibt, sie verstehen einander genau so wenig wie wir sie. Es ist als hätte die so zerbrechliche Lilith Stangenberg als Lulu alle diese Stimmen, diese Geräusche, die Musik in ihrem Kopf und es sei ein vernichtendes Gefühl zu spüren, welcher Kosmos in ihr klingt, und wie wenige Klänge davon in diesem heruntergekommen Studio erwünscht sind. Aber immer wieder geraten in dieser Ordnung der kalkulierten Gefühle und Töne sowie die Kategorien in größte und lauteste Verwirrung.

 

Lulu erscheint in dreifacher Gestalt. Da ist die Sängerin Yuka Yanagihara, die sich mit ihrem lyrischen Sopran in die extremen Höhen der Oper „Lulu“ von Alban Berg aufschwingt als sei es die natürlichste Art so zu kommunizieren. Da ist Yelena Kuljic, ein changierendes Wesen mit faszinierender Jazzstimme voller Kraft und Zärtlichkeit. Es ist überhaupt die Musik in ihren so unterschiedlichen Formen, die die Grenzüberschreitungen dieser Thematik des Anspruchs der Lulu genannten Frau auf ihre Selbstbestimmung, fernab aller Zuschreibungen seit Adam und Eva,  sinnlich und erotisch grundiert. Es ist ausgesprochen spannend, wie in den Arrangements von Sir Henry am Keyboard, die Zwölftontechnik des Opernsounds von Alban Berg, Jazziges, Collagen und performative Passagen zusammenbringen und wie Jan Czajkowsky vom Klavier aus das ganze Ensemble zu verblüffenden musikalischen Höhenflügen führt.

David Marton, Regisseur und Erfinder dieses Musiktheaterexperiments gelingt es, Wedekinds tödliche Geschichten um Aufstieg und Fall Lulus und ihrer Mörder musikalischen Korrespondenzen auszusetzen und etliche Klischees der Thematik wegzuräumen. So wie am Ende nicht entschieden ist, ob dem Theater des Textes, geradlinig in der Erzählung oder verschlüsselt absurd, oder der Musik, schmiegsam in der Melodik oder noch immer verstörend in der schroffen Verstörung der Moderne, der Vorrang zu geben ist, so ist auch nicht entschieden, ob es wirklich stimmt, dass sich die Menschheit kategorisieren lässt in Männer oder Frauen.

Die Monstertragödie trifft hier alle. Thorbjörn Björnsson, den unermüdlichen Arbeiter zwischen den Reichen mit einer Welt aus Geräuschen zum einen und verführerischem Melos zum anderen in seiner Baritonstimme, der am ehesten so etwas wie eine männliche Variante der Lulu wäre, ebenso wie Benjamin Höppner als Variante des Tierbändigers, ein herrischer Bestimmer in der Höhe, der in buntes Tuch gehüllt herabsteigt und sein gotthaftes Coolsein an der Ukulele weg rockt.
Peter Knaak ist als Dr. Schöning mit sich und seinen Verhältnissen im grotesken Dauerclinch, Christian Friedel ist Alwa, sein Sohn, der nur auf die eigene Stimme hört, weshalb er sie ständig per Diktaphon dokumentiert. Ein unbändiger Kerl, der meistens in einer Ecke pennt, sich ansonsten fläzt und wie in Altrocker Saxophon spielt ist Matthias Neukirch als Schigolch. Holger Bülow ist der Maler Schwarz mit Künstlerallüre und mehr als einem Herz in der Brust was ihn befähigt in seinem zweiten Leben eine Variante der Gräfin von Geschwitz zu sein.

Überhaupt wird gestorben und wieder auferstanden in diesem Stück, die Zeit kann rückwärts laufen. Einmal versinkt sogar die ganze Studiowelt in der Tiefe um dann doch wieder hoch zu fahren, denn die ganze Monstertruppe muss ja noch nach Paris reisen, was in Windeseile und amüsant, musikalisch in raffinierter Mehrstimmigkeit, erledigt wird. Und am Ende leben sie alle, nur Lulu ist auf der Strecke geblieben. Das Leben, der Tod, das Theater, die Kunst haben sie zusammengeschmolzen zu einem  beliebig reproduzierbaren Typ. Lulus von der Stange, da vergeht selbst dem Lustmörder die Lust. Sir Henry macht die Musik aus.

Bei alledem fehlt es nicht an Humor und man muss vor allem kein Kenner der Oper oder der Literaturgeschichte sein. David Martons Theater, das variiert, experimentiert, jongliert und der Kraft des Widerspruchs stärker verpflichtet ist als dem trügerischen Anspruch auf Wahrheit, ist voller Bilder. Er führt uns durch den Dschungel der Gefühle und wir erfahren etwas von der mörderischen Vergeblichkeit darin Ordnung zu schaffen.
                                               
Eine Textfassung des Artikels ist am 11. Januar in den Dresdner Neusten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.

Fotos (4): David Baltzer

Die mobile Version verlassen