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Atemlos durch den Tanz

»Pax Questuosa« (Laura Costa Chaud, Juliano Toscano, Luke Francis). Fotos: Ida Zenna

Am Ende habe ich es geschafft. Gerade so. Nach fast vier Stunden Zugverspätung blieben mir gerade noch sieben Minuten, um vom Bahnhof in die Oper zu flitzen, wo das Leipziger Ballett am 1. Dezember zu einer Gala eingeladen hatte, anlässlich des 60. Geburtstages seines ehemaligen Chefchoreografen Uwe Scholz, der ja leider schon 2004 im Alter von nur 45 Jahren verstarb.

Ich habe es geschafft. Atemlos in die Oper. Atemlos in den Tanz, und der ließ dann zwar im Verlauf dieser Gala grandiose Erinnerungen zu, aber den Atem stocken ließen vor allem die tänzerischen Gegenwartskorrespondenzen. Die Leipziger als Gastgeber hatten viele Facetten zu bieten. Da ist diese hochmusikalische Bewegungssprache von Uwe Scholz, etwa in seiner Choreografie der 7. Sinfonie von Beethoven: in einer Geschwindigkeit, die eben keine Hexerei ist, sondern tänzerische Technik, flirrt das ganze Ballett zum Finale der Sinfonie hin. Ganz anders, in nahezu meditativer Besonnenheit, die Tänzerin Fang Yi Liu zur Arie »Et incarnatus est« aus Mozarts c-Moll-Messe. Oder, gerne übersehen bei Uwe Scholz, verschmitzte, hintersinnige und verspielte Heiterkeit im von Yan Leiva und Lou Tabart getanzten Duett zur Musik aus Rachmaninows Suite für zwei Klaviere, Nr. 2, in C-Dur.

Es war der Leipziger Intendant Udo Zimmermann, der Uwe Scholz 1991 von Zürich nach Leipzig geholt hatte. Es ist mehr als nur eine Erinnerung, wenn jetzt in dieser Gala ein zutiefst berührender Ausschnitt aus der Choreografie von Uwe Scholz zu Udo Zimmermanns oratorischer Komposition »Pax Questuosa« getanzt wurde. Laura Costa Chaud tanzte zu Zimmermanns Komposition zum Gedicht von Else Lasker Schüler, „Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen“.

Als Ballettdirektor in Zürich hatte Uwe Scholz am Beginn seiner Karriere die Choreografie zu Haydns Oratorium »Die Schöpfung« kreiert. In der Rückschau, auch in der Erinnerung an das ganz und gar nicht paradiesische Leben dieses Ausnahmekünstlers, stockt schon auch leicht der Atem, bedenkt man, dass Haydns Sicht auf die Schöpfung da endet, wo sich für den Menschen die Tore zum Paradies öffnen, kein sogenannter „Sündenfall“, keine Vertreibung… Yan Leiva tanzte zum vom Leipziger Oratorienspzialisten Martin Petzold gesungenen Rezitativ „Und Gott schuf den Menschen…“ – und wie Leiva tanzt, das besingt der Tenor, „Mit Würd´und Hoheit angetan.“

»Die Schöpfung« (Yan Leiva)

Und natürlich, keine Gala ohne Gäste, zum Geburtstag ohnehin. Diese kamen vom Staatsballett aus Berlin, Ballett Zürich und vom Stuttgarter Ballett. In Stuttgart hatten Marcia Haydée und John Cranko schon bald das choreografische Talent des jungen Tänzers Uwe Scholz erkannt und gefördert. In der Leipziger Gala nun tanzte der gerade zum Ersten Solisten gekürte Adhonay Soares ein außergewöhnliches Solo zu den Teilen I bis IV der Komposition »Notations« von Pierre Boulez. Scholz hatte dieses höchst anspruchsvolle Solo 1996 für Vladimir Malakov kreiert, und für diesen Ausnahmetänzer war klar: „Wenn man »Notations« tanzen kann, dann kann man alles tanzen.“ Wie recht er damit hatte, wird klar bei der Leipziger Gala, wenn man sieht, wie Soares dieses Solo tanzt. Ob mit seinen Sprüngen, ob mit den Bewegungen am Boden, ob mit blitzenden Drehungen, verfolgt, getrieben, in Momenten angstvollen Rückzuges, die sofort kraftvollem Widerstand weichen, als gelte es dem Umgang mit Gefahren, die ihre Signale aus den Kräften bildhafter Vorstellungen wild aufgebäumter Fantasien empfangen, nur durch den Fluchtsprung des Tänzers ins Dunkel der Gasse oder der Kulisse des Theaters zu entkommen.

Katja Wünsche, Erste Solistin bei Ballett Zürich, kommt aus Dresden. Ihre Ausbildung erhielt sie allerdings an der Staatlichen Ballettschule in Berlin, vom Stuttgarter Ballett, wo sie ebenfalls Erste Solistin war, ging sie mit Christian Spuck als neuem Chef in Zürich dorthin. Dahin zog es jüngst auch den Tänzer Yannick Bittencourt vom Ballett der Pariser Oper. In Leipzig tanzten beide zum dritten Satz der Sonate für Violoncello und Klavier von Sergej Rachmaninow. Zu erleben: exzellente Neoklassik, Spitzentechnik vom Feinsten, aber vor allem die so fließenden Übergänge vom Klang in die Bewegung bis hin zur optischen Verschmelzung zu der für Scholz so charakteristischen Melodik des Tanzes. Und mit »Jeunehomme«, jenem legendären Pas de deux zum Andantino aus Mozarts Klavierkonzert in Es-Dur, KV 271, setzen die Berliner Starballerina Polina Semionova mit ihrem nicht weniger grandiosen Partner Alejandro Virelles nicht nur einen Höhepunkt, auch einen Maßstab im Hinblick auf die zeitgemäße Gültigkeit tänzerischer Klassik. Diese Choreografie mit ihrer inneren Dramatik um Nähe und Ferne eines Paares, um die beglückende Kraft des Miteinanders in verblüffender Korrespondenz zur Notwendigkeit des Rückzuges und der produktiven Einsamkeit, sofern sie nicht in die schmerzhafte Flucht voreinander führt, dürfte wahrhaftig zu den ganz besonderen Schöpfungen des Tanzes im letzten Jahrhundert gehören. Und wenn dann so wie hier Polina Semionova und Alejandro Virelles tanzen, wie er sie schweben lässt, der Griff nach den Sternen keine Übertreibung bedeutet, so wie er sie in ihrem Zweifel, bei angemessener Entfernung, dennoch nicht allein lässt, sie auffängt und ihr aufhilft im rechten Moment, das macht jene Momente des Tanzes erlebbar, in denen man im großen, voll besetzten Opernhaus, die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören könnte. Vielleicht konnte nur ein Mensch wie Uwe Scholz, mit den Erfahrungen der Einsamkeit, kraft der vergänglichen Kunst des Tanzes, so wunderbare Momente des Glücksempfindens im Einklang mit Musik und Raum entstehen lassen.

Atemlos kam ich also an und atemlos ob meiner Begeisterung verließ ich das Opernhaus. Aber als ich in Dresden ankam, da habe ich mich schon gefragt: warum gab es eigentlich keinen Gruß, keinen Beitrag aus Dresden? Hier hatte Uwe Scholz doch etliche seiner Werke einstudiert, hier hat er gerne gearbeitet, hat immer wieder betont, wie wohl er sich hier fühle, welch Glück es für ihn bedeute, mit so großartigen Tänzerinnen und Tänzern zu arbeiten. Und hatte er nicht auch in Dresden, mit einer seiner letzten Arbeiten, jenem schon von Trauer und Abschied durchzogenen Solo für Vladimir Derevianko zu einer Auswahl an Liedern aus Schuberts Zyklus »Die Winterreise« angedeutet, dass er das Schicksal dieses Wanderers bald würde teilen müssen?

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